Frankfurter Rundschau 11.11.2000 "Beirut grüßt Jerusalem" Israelis und Palästinenser treiben in einen Guerilla-Krieg Von Inge Günther (Jerusalem) Ein Schlagwort macht die Runde, unter Israelis wie Palästinensern. Von einer "Libanonisierung" sprechen sie und meinen die gefährliche Entwicklung der jüngsten Zeit hin zu einem Guerillakrieg. Um den Befund, dass sich die Lage in den besetzten Gebieten eher verschärft als entspannt, kommt man nicht mehr umhin. An die Vermeldung von nächtlichen Schießereien zwischen bewaffneten Fatah-Kämpfern und israelischen Soldaten hat man sich fast schon gewöhnt in den sechs Wochen der Intifada II. Aber dass es in der Nacht zum Freitag Schussattacken gegen so gut wie alle Armeeposten im Gazastreifen gegeben hat, verdient gesonderte Aufmerksamkeit. Gleiches gilt für die neue Drehung der Gewaltspirale vom Vortag, die allen Interessierten an weiterer Eskalation eine Steilvorlage geliefert hat und die auf Israels Konto geht. Sicher, die "harte Faust" hat Israels Armee schon zuvor herausgekehrt, indem sie das Feuer aus palästinensischen Kalaschnikows mit Panzergranaten und Flugraketen erwiderte. Doch der "Präventivschlag" vom Donnerstag, mit einem lang vorbereiteten, gezielten Anschlag einen militanten Fatah-Führer aus Bethlehem auszuschalten, ist ein Novum in der blutigen Konfrontation. Genau wie vor einer Woche das Bombenattentat des Islamischen Dschihad nahe dem West-Jerusalemer Mahane-Jehuda-Markt. Die Nebenwirkungen sind die gleichen. Sie erschweren, torpedieren gar die Vermittlungsbemühungen von US-Präsident Bill Clinton. Israelischen Berichten zufolge sollen nicht wenige im Weißen Haus geschäumt haben, als sie von der "geglückten" Liquidation des 37-jährigen Fatah-Kämpfers Hussein Abayat erfuhren. Just wenige Stunden, bevor Clinton den PLO-Chef Yassir Arafat zu Beratungen über neue Deeskalationsstrategien empfing. "Israel hätte sich keinen schlechteren Zeitpunkt aussuchen können", zitierte die Zeitung Haaretz einen US-Offiziellen. Statt sich auf Verhandlungsvorschläge zu konzentrieren, habe Arafat vor allem Dampf wegen der Provokation abgelassen. Auch Israels Premier Ehud Barak, der am Sonntag in Washington erwartet wird, trug vor seinem Abflug nicht eben zu Hoffnungen bei. Unmittelbare Ergebnisse verspreche er sich nicht von seinen Gesprächen mit Clinton, dämpfte Barak die Erwartungen, deute doch die Lage insgesamt eher auf eine weitere Verschlechterung hin. Dazu beigetragen haben in nicht geringem Maße seine Militärs. Bereits vor zehn Tagen hatte Generalstabschef Schaul Mofas gedroht, man werde künftig von der defensiven zur initiativen Aktion übergehen, um den Feind dort zu treffen, wo er es am wenigsten erwarte. Doch selbst unterstellt, dass Hussein Abayat, der am Donnerstag in seinem Fahrzeug sitzend von einer lasergesteuerten "Höllenfeuer"-Rakete zerrissen wurde, eine Schlüsselrolle im bewaffneten palästinensischen Widerspand spielt - wofür wenig spricht -, die anderen beiden Todesopfer waren zufällig anwesende Statisten. Zwei Frauen, 52 und 55 Jahre alt, mussten nur deshalb sterben, weil sie gerade auf der Straße waren, zu einem Zeitpunkt, als weder Straßenschlachten noch sonstige Kämpfe tobten. Kaum einer dort, der Baraks Beteuerungen, im Falle eines Gewaltverzichts Arafats zum Frieden bereit zu sein, nicht als Hohn empfindet. Die Fatah-Führung hat Rache für ihren ermordeten Lokalhelden Abayat geschworen. "Gesucht: Generalstabschef Mofas", heißt es auf einem Flugblatt. "Wir erneuern unseren Schwur, den Volkaufstand fortzusetzen und voranzutreiben." Und ein Sprecher der Fatah-Miliz Tansim, Hussein a-Scheich, rief dazu auf, "mit allen Mitteln" zurückzuschlagen. Wenn Israel jetzt gegen Tansim-Aktivisten dieselben Methoden wie seinerzeit in der libanesischen "Sicherheitszone" gegen die Hisbollah anwende, so "werden wir den Israelis in derselben Münze heimzahlen". Vorbild Libanon. Seit dem israelischen Abzug im Mai aus dem ehemaligen libanesischen Pufferstreifen genießt die pro-iranische Hisbollah größte Bewunderung unter den Palästinensern. Jetzt sehen viele darin, der "Gottespartei" nachzueifern, die einzige Chance, sich der Besatzung in Gaza und Westbank zu entledigen. Israel wiederum muss fürchten, dass sich die Hisbollah an der Befreiung der heiligen moslemischen Stätten in Jerusalem demnächst aktiv beteiligen will. Die Situation an der Nordgrenze bezeichnete Barak als "hochsensibel" - und das nicht nur, weil dort erneut hunderte libanesische Steinewerfer den israelischen Posten am Fatma-Gate attackierten. Angeblich soll die Hisbollah bereits ihre alten Katjuscha-Raketen wieder gegen Israel in Stellung gebracht haben. Und Syrien als Schutzmacht Libanons, so Barak, "drückt beide Augen zu". Dabei trägt auch die Kulisse der Zusammenstöße in Bethlehem, Ramallah, Hebron und Gaza längst kriegsähnliche Züge, wie der Freitag, ein weiterer "Tag des Zorns" zeigte. Nur hunderte Moslems, die auf den Straßen vor den Jerusalemer Altstadtmauern niederknieten, gaben ein Bild des friedlichen Protestes ab. Ein paar dutzend Meter weiter hatte es am Morgen noch eine Sprengstoffexplosion gegeben, dort, wo sonst oft viele Soldaten postiert sind. "Beirut grüßt Jerusalem", lautete ein palästinensischer Kommentar.
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