Süddeutsche Zeitung 11.11.2000

Verschleppt

Holland hätte den Tod von 58 Einwanderern verhindern können

Von ihnen gibt es keine zu Herzen gehenden Fotos, es wurden auch keine Blumen an der Stelle in Dover niedergelegt, wo sie starben – und doch hat der Tod der 58 Chinesen, die die Hoffnung auf ein besseres Leben in die Fänge von skrupellosen Menschenschmugglern getrieben hatte, die Niederländer tief berührt. 58 Männer und Frauen aus China starben bei dem Versuch, illegal nach Großbritannien einzuwandern, versteckt in einem Tomatentransporter, auf der Strecke von Rotterdam nach Dover. Sie starben an einer Kohlendioxidvergiftung, die Belüftung war in dieser heißen Juni-Nacht nicht eingeschaltet. Eine holländisch-türkische Schlepperbande hatte die Fahrt im Gemüsetransporter organisiert. Er wurde zufällig gestoppt, weil die Fährgesellschaft gemeldet hatte, der Fahrer habe die Passage bar bezahlt – was ungewöhnlich ist.

Heute scheint eines sicher: Der Tod der 58 Männer und Frauen hätte verhindert werden können, wenn die niederländische Polizei und das Justizministerium besser zusammengearbeitet hätten. Der Hauptverdächtige Gürsel Ö. war der Polizei bekannt und von ihr observiert worden. Das Parlament lässt nun untersuchen, wieso die Behörden versagten.

Hinweise hatte es zuvor schon viele gegeben. Die Rotterdamer Wasserschutzpolizei hatte die Menschenschmuggler um den flüchtigen Gürsel Ö., die die Chinesen in einem Hafenschuppen versteckt hatten, lange beschattet. Der Hauptverdächtige hatte bis April 1999 eine halbjährige Gefängnisstrafe wegen Menschenschmuggels in Holland verbüßt. Nur einen Tag vor dem Todestransport war aber die Observation eingestellt worden. Es sei „nur eine orientierende Beobachtung“ gewesen, so die Erklärung der Polizei.

Auch die französischen Behörden hatten Gürsel Ö. im Visier. Am 13. Dezember 1999 lag den Niederländern Frankreichs Auslieferungsersuchen vor – er war dort bereits wegen Menschenschmuggels verurteilt worden. Erst fünf Monate später, im Mai 2000, wurde dem französischen Ersuchen stattgegeben. Und erst am 27. Juni wurde Ö. zur Fahndung ausgeschrieben. Die Polizei rechtfertigt sich damit, sie sei damals wegen Personalmangels und der Fußball-EM überlastet gewesen. In der Zwischenzeit konnte Gürsel Ö. wieder zwei Menschentransporte organisieren. Er hatte den Schuppen in Rotterdam angemietet und einen Lastwagen bar gekauft. Wobei er sich darüber beklagt haben soll, dass die Ladung holländischer Tomaten, die zur Tarnung der menschlichen Fracht dienten, zu teuer sei.

Überrascht von den Schlampereien in seiner Behörde zeigte sich der niederländische Justizminister Benk Korthals, er sagte, diese Schlepperbande habe bei der zuständigen Staatsanwaltschaft wohl „keine hohe Priorität“ genossen. Die Empörung im Parlament und in der Bevölkerung ist groß. Der Prozess gegen die Schlepperbande, in der Türken, Chinesen und Holländer zusammenarbeiten, wurde jedoch erstmal auf unbestimmte Zeit vertagt.

Siggi Weidemann