Süddeutsche Zeitung 11.11.2000

Europa und die Türkei

Schlechte Noten, gute Stimmung

Trotz harscher Kritik im EU-Fortschrittsbericht sieht sich Ankara auf dem Weg in die Europäische Union / Von Cornelia Bolesch


Brüssel – Die Deutlichkeit der Analyse lässt nichts zu wünschen übrig: „Die Gesamtsituation bei den Menschenrechten bleibt besorgniserregend“; „Folter und Misshandlung sind noch lange nicht verschwunden“; die Lage im Südosten des Landes, „wo die Bevölkerung vorwiegend kurdisch ist, hat sich nicht wesentlich geändert“; die „Rechte ethnischer Gruppen mit einer eigenen kulturellen Identität sind nicht garantiert“. Das sind nur einige von vielen kritischen Anmerkungen im jüngsten Bericht der EU-Kommission „über die Fortschritte der Türkei auf dem Weg zum Beitritt“. Der Zustand dieses Landes, dem das Papier allenfalls „Grundmerkmale eines demokratischen Systems“ zubilligt, ist aus Sicht der Kommission jedenfalls so, dass die Türkei noch nicht reif ist für konkrete Verhandlungen.

Streitfall Cypern

Wer jetzt glaubt, die Vertreter dieses rudimentär-demokratischen Systems würden angesichts der harten Bilanz beschämt ihr Haupt verhüllen, sieht sich getäuscht. „Der Bericht ist für uns keine Überraschung“ – so gleichmütig reagiert der stellvertretende Vorsitzende der in Ankara mitregierenden Mutterlandspartei, Bülent Akarcali, auf das schlechte Zeugnis. Nur einen Tag nach der Veröffentlichung der 13 Beitrittsberichte tritt der Abgeordnete Akarcali auf einem Symposium der Konrad-Adenauer-Stiftung in Brüssel auf. Und das Einzige, was ihn an dem EU-Urteil über die Türkei irritiert, ist ein kleiner Abschnitt über Cypern. Keinerlei Junktim dürfe es zwischen der Lösung der Cypern-Frage und einem EU-Beitritt der Türkei geben, das ist die Haltung der türkischen Regierung. Dabei ist der entsprechende Abschnitt in dem EU-Text noch ziemlich harmlos formuliert. Die Kommission ermuntert darin den türkischen Beitrittskandidaten, alles zu tun, um den Territorialstreit mit Griechenland über Cypern unter der Schirmherrschaft der Vereinten Nationen zu lösen.

Doch von den wenigen Zeilen über die geteilte Insel abgesehen, kann die Türkei mit ihrem schlechten Zwischenzeugnis offenbar „gut leben“, wie es Faruk Sen, Direktor des Zentrums für Türkeistudien der Universität Essen formuliert. Überhaupt ist auf der Tagung in Brüssel eine neue türkische Gelassenheit zu spüren: Die Vertreter des Landes sind bereit, ziemlich viel an Kritik zu schlucken, weil ja auch ein so schonungsloses Papier wie der jüngste Fortschrittsbericht nichts mehr daran ändern kann, dass die Türkei, Nato-Mitglied seit 1952, nach vielen vergeblichen Anläufen und Zurückweisungen seit einem Jahr endlich auch offiziell als EU-Beitrittskandidat akzeptiert ist. Der europäische Regierungsgipfel in Helsinki, der im Oktober 1999 diesen Beschluss gefasst hat, stellt für die türkische Regierung und die meisten politischen Kräfte in diesem Land die entscheidende Wende in ihrem Verhältnis zur Europäischen Union dar. Alles, was danach kommt, wird im milden Licht dieses Ereignisses gesehen. „Die Tür ist offen“ – jetzt gelte es „nur noch“, die Bedingungen zu erfüllen. Auf diesen optimistischen Punkt bringt Regierungssprecher Aydin Sezgin die neue Leichtigkeit des türkischen Seins – zu der sicherlich auch beiträgt, dass seit der Festnahme des PKK-Führers Abdullah Öcalan an der Terror-Front Ruhe herrscht.

Zwischen den Kulturen

Das Verhältnis der Türkei zu Europa ist ein Beziehungsgeflecht voller Widersprüche. Einerseits spiegelt der Bericht der Kommission die große Kluft zwischen den Gesellschaften und Rechtssystemen. Andererseits existiert zwischen der Türkei und dem europäischen Westen ein viel intensiverer Austausch als zwischen der EU und manchen osteuropäischen Kandidaten, die jetzt aber mit ungleich besseren „Noten“ davonziehen konnten als die Türkei. Seit 1996 gibt es zwischen der EU und der Türkei eine Zollunion und im EU-Bericht steht, dass der gegenseitige Handel floriert. Über drei Millionen Türken leben zum Teil schon seit Generationen in der Union, allein zwei Millionen von ihnen in Deutschland. Zwischen den beiden Kulturen sind „Brückenmenschen“ gewachsen, die sich sowohl als Türken als auch als Deutsche fühlen. Auf der Tagung in Brüssel waren gleich drei vertreten: Neben Faruk Sen der hessische Europaabgeordnete Ozan Ceyhun, der von den Grünen kürzlich zur SPD gewechselt ist, und der Hamburger Reiseunternehmer Vural Öger, der immer von den „deutsch-europäischen Beziehungen“ sprach, wenn er die „türkisch-europäischen“ meinte.

Vural Öger hat erkannt, dass eine Annäherung der Türkei an die Europäische Union nicht nur über Fortschrittsberichte läuft. Er plädiert für mehr Kontakte, mehr „Berührungen“ zwischen den EU-Bürgern und den Türken. Vor einiger Zeit hat er eine kleine Umfrage unter deutschen Touristen in der Türkei organisiert. Diejenigen, die bereits mehrfach in der Türkei Urlaub gemacht haben, hätten dabei zu über siebzig Prozent eine EU-Mitgliedschaft der Türkei befürwortet. Unter denen, die zum erstenmal gekommen waren, hätten sich immerhin noch 50 Prozent positiv geäußert. Das ist ein ziemlicher Kontrast zu den Zahlen des offiziellen „Eurobarometers“: Da wollen im Augenblick nur 20 Prozent der Deutschen (und 30 Prozent aller EU-Bürger) die Türken in der Gemeinschaft sehen.

„Solange die europäischen Bürger die Türken nicht als Teil der Gemeinschaft akzeptieren, solange werden es die Politiker sehr schwer haben“, sagt Öger. Auch dem Europaparlament reicht der Status quo mit der Türkei nicht aus. Eine Abgeordnetengruppe unter Vorsitz des Grünen Daniel Cohn-Bendit trifft sich zwar regelmäßig mit türkischen Kollegen. Doch in der Straßburger Plenartagung der kommenden Woche will der Auswärtige Ausschuss zusätzlich „regelmäßige Diskussionsforen“ mit prominenter Besetzung vorschlagen , um den Dialog zwischen Europa und der Türkei zu fördern. Auf Klartext gegenüber der Türkei will das Parlament aber genauso wenig verzichten wie die Europäische Kommission: „Als Vorbedingungen“ für einen Beitritt werden die Lösung der Kurdenfrage, der Rückzug des Militärs aus der Politik und „die Lösung der Cypernfrage“ genannt.