SoZ - Sozialistische Zeitung,09.11.2000 Eine neue Intifada? Die Palästinenser finden zu einer neuen Einheit Die jüngste Revolte der Palästinenser erinnert an die Intifada von 1987 - bei allen Unterschieden, die es zu berücksichtigen gilt. Mit der Unterschrift unter das Osloer Abkommen wie auch die nachfolgenden Verträge hatten Yasser Arafat und die Führung der PLO-ANP (der palästinensischen Verwaltung in den besetzten Gebieten) akzeptiert, dass sie weiterhin der israelischen Herrschaft untergeordnet und von ihr abhängig sind. Das war der Preis, den sie für die Bewilligung eines Pseudostaats, besser gesagt, Bantustans, zu entrichten hatten. Die vergangenen sieben Jahre wurden nicht genutzt, um einen Palästinenserstaat aufzubauen. Der einzige Apparat, der aufgebaut wurde, war der Polizeiapparat. Alle anderen Probleme - von der Erwerbslosigkeit über die Gesundheitsversorgung und die Schulbildung - wurden von Arafat und seiner Umgebung nur gestreift. Die Kritiker des Abkommens, die 1993 noch sehr isoliert waren, haben unter den verzweifelten Massen schnell Zustimmung gefunden, weil sich deren Lebensbedingungen gegenüber vorher, als sie israelischen Panzern direkt gegenüberstanden, nicht verbessert haben. Im Gegenteil, vielfach äußerten die Leute hinter vorgehaltener Hand, unter israelischer Besatzung sei es ihnen besser gegangen. Die Sympathien für Arafat und sein Gefolge in der Bevölkerung ist drastisch zurückgegangen, zum einen wegen der Korruption der palästinensischen Administration, zum andern weil es die palästinensische Polizei war, die jetzt die Aufgabe der Repression übernahm. Wer immer öffentlich eine zum offiziellen Kurs abweichende Meinung - nämlich Vereinbarung mit der israelischen Regierung um jeden Preis - verlauten ließ, wurde verfolgt: Zeitungen wurden geschlossen, Intellektuelle wahllos verhaftet usw. Das alles weil die palästinensische Führung vor allem um eins besorgt war: gegenüber der israelischen Regierung als verlässlicher Partner zu erscheinen. Es ist nicht verwunderlich, dass unter diesen Bedingungen die islamische Strömung Zulauf bekommen hat: sie hielt Brandreden auf den Ausverkauf der palästinensischen Sache und lud die Jugendlichen - und nicht nur die - ein, den Heiligen Krieg für die Befreiung Palästinas und Jerusalems zu führen. Zwischen 1994 und 2000 haben Hamas und Jihad leider Mitstreiter gefunden. Die Selbstmordattentate auf israelischem Gebiet schien vielen Palästinensern der einzige Weg zu verhindern, dass die Welt sie vergaß. Vor allem Hamas hat sich keineswegs auf den bewaffneten Kampf und auf die Rekrutierung "freiwilliger Märtyrer" beschränkt, im Gegenteil. Sie nutzte die eigenen Strukturen, um dort präsent zu sein, wo die palästinensische Verwaltung mit Abwesenheit glänzte. Sie öffnete Schulen, Krankenhäusern, Kindergärten und Universitäten vor allem im Gazastreifen, wo die wirtschaftliche Situation sehr schlecht ist und die israelische Regierung trotz der Unterschrift unter die Abkommen weiter tut, was sie will, den Streifen abriegelt, wenn sie es gerade für geboten hält, auf diese Weise die wirtschaftliche Lage weiter verschlimmert und die Bevölkerung zur Verzweiflung treibt. Die Lage in den Flüchtlingslagern ist erschreckend, den jüdischen Siedlern hingegen fehlt es an nichts. Arafats Probleme Lange Zeit hat Arafat geglaubt, dies alles ignorieren und dennoch politisch überleben zu können. Alle ungelösten Probleme wurden verschoben mit dem Hinweis auf die bevorstehende Proklamierung des Palästinenserstaats, die dann doch immer wieder hinausgeschoben wurde. Im letzten Juli traf Arafat zum x-ten Gipfel mit Israels Premier Barak zusammen. Die Lage in Palästina war explosiv, ihm drohte, die Kontrolle über die Lage zu verlieren. Denen, die am besten informiert waren, erschien deshalb seine Weigerung in Camp David, die endgültige Kapitulation zu unterschreiben, wie ein Versuch, wieder Verbindung mit der Bevölkerung aufzunehmen. Camp David war noch aus einem anderen Grund kein guter Zeitpunkt für die Fortsetzung der Arafat-Linie: Die israelische Armee musste sich gerade aus dem Südlibanon zurückziehen, was eher nach einer Flucht aussah und den Palästinensern bewies, dass der Kampf der Hisbollah sich ausgezahlt hatte. Im Westjordanland und in Gaza feierte man die Niederlage des Feindes durch arabische und islamische Hand. Was Clinton als "Versöhnungsplattform" anbot, war zu gefährlich zu unterschreiben, nicht nur wegen der weiterbestehenden zionistischen Ansprüche auf Jerusalem. Es hätte auch das Schicksal der Flüchtlinge endgültig besiegelt, die man sogar nach Kanada ausbürgern wollte, damit sie Jordanien, Syrien u.a. nicht weiter zur Last fielen. Arafat hatte in Camp David gefordert, sich mit der laizistischen Opposition beraten zu können; das wurde bewilligt, es konnte ihn aber nur bestärken, das Abkommen abzulehnen. In Camp David vermittelten die internationalen Medien das Bild von einem schwachen, von seiner Krankheit geschüttelten Arafat, dem ein vor Gesundheit strotzender Barak gegenüberstehe. Es sollte suggerieren, wer der Stärkere sein würd. Die Wirklichkeit verlief aber anders. Auch Barak kam nach Camp David ohne eine Mehrheit im Rücken; viele seiner Minister hatten ihr Amt niedergelegt oder hatten dies vor. Er versuchte, den Einfluss der ultraorthodoxen Shas-Partei einzudämmen und die öffentliche Bildung in Israel dementsprechend neu zu gestalten, was allerdings den heftigen Protest nicht nur der Orthodoxen, sondern auch des Likud hervorrief. Vor diesem Hintergrund kam Arafats Weigerung, ein Abkommen zu unterschreiben, wie eine kalte Dusche. In den Monaten nach Camp David war die israelische Regerung vollauf damit beschäftigt, Arafat zum Verantwortlichen für das Scheitern von Camp David zu stempeln, infolgedessen zu demjenigen, der keinen Frieden will. Barak wie Arafat reisten durch die verschiedenen arabischen Hauptstädte, um ihre Position darzulegen und Zustimmung zu erheischen. Arafat setzte natürlich auf viele arabische und auf einige europäische Länder. Währenddessen verlor der bei allen verhasste Ariel Sharon, der Schlächter von Sabra und Shatila, der auf Kosten von Netanyahu - im Vergleich zu ihm eine Taube - Vorsitzender des Likud geworden ist, keine Gelegenheit, Barak anzugreifen, er habe Jerusalem ausverkauft. Bis hin zur Ankündigung, er werde den Platz vor den Moscheen Omar und Al Aqsa eigenhändig besuchen - damit auch klar werde, wer in Palästina das Sagen hat. Es ist nicht vorstellbar, dass Barak nicht die Mittel gehabt haben soll, Sharon an diesem angekündigten Vorhaben zu hindern. Sharon konnte die Provokation bis zu Ende führen, weil die Regierung Barak ihm den Rücken frei hielt. Es ist deshalb heuchlerisch, wenn jetzt nur Sharon als der Provokateur hingestellt wird, die Mitverantwortung der Regierung Barak aber nicht zur Sprache kommt. Das ist ebenso eine Verkehrung der Tatsachen wie die systematische Ausblendung der Verantwortung Sharons für das Massaker in Sabra und Shatila. Es war klar, dass die Palästinenser auf seine Provokation reagieren würden. Weniger klar war, dass das Gemetzel vor den Moscheen, das vier Palästinensern das Leben kostete und dutzende Verwundete hinterließ, zum Signal einer neuen Revolte würde, die auch jene Teil der palästinensischen Bevölkerung erfasste, die sich in den letzten zehn Jahren eher abwartend verhalten haben. Arafat und die palästinensische Verwaltung beschlossen, diesmal den Israelis die schmutzige Arbeit nicht abzunehmen und die Demonstrierenden nicht zurückzudrängen. Die Demonstrationen waren auch in ihrer Mehrzahl friedlich, wenn man einmal beiseite lässt, dass die veröffentlichte Meinung Steinschleudern und Panzer auf eine Stufe stellt. Die Mehrzahl waren Männer, Frauen, Junge und Alte, die mit nackten Händen der bestausgerüsteten und bewaffneten Armee in Nahen Osten gegenübertraten. Die Zahl der Toten auf beiden Seiten spricht hierüber Bände. Hamas schweigt Die Träger der Demonstrationen gegen die israelische Armee waren weder Hamas noch Jihad. Denjenigen, die krampfhaft überall islamische Kräfte am Werk seh en, bekanntlich der neue Bösewicht und Universalfeind nach dem Fall der UdSSR, gingen die Argumente aus. Eine Woche nach dem Beginn des Aufstands, am darauffolgenden Freitag, rief Hamas zum "Tag des Zorns" auf. Und noch einmal wurden die Kommentatoren enttäuscht: Die Zusammenstöße nach dem Freitagsgebet ließen wiederum kein organisiertes Eingreifen des Islamisten erkennen. Obwohl sehr wahrscheinlich, sogar fast sicher, die Jugendlichen, die heute gegen die israelische Armee vorgehen, dieselben sind, die in den vergangenen Jahren der Einladung von Hamas und anderen Folge leisteten, gegen eine sich abzeichnende endgültige Niederlage den Widerstand aufzunehmen. Man muss daraus die Schlussfolgerung ziehen, dass die fundamentalistischen islamischen Strömungen in Palästina von der neuen Rolle als Bezugspunkt für die palästinensische Bevölkerung, die Arafat wieder zugefallen ist, an den Rand gedrängt worden sind - nicht nur in Gaza und im Westjordanland, und auch dass die palästinensische Bevölkerung vor allem im Gazastreifen ihnen vorher eher aus Verzweiflung und in Ermangelung anderer Perspektiven gefolgt ist. Man kann nicht übersehen, dass das palästinensische Volk viele Jahre hindurch von allen Völkern des Nahen Osten dasjenige gewesen ist, das am stärksten laizistisch orientiert war. In seinem Befreiungskampf hat das religiöse Element kaum eine Rolle gespielt, wenn überhaupt. Das palästinensische Volk hat auf politischer Ebene zu einer neuen Einheit zurückgefunden. Wie lange sie anhält, hängt vom Verhalten der palästinensischen Verwaltung ab. Es besteht immer die Gefahr, dass sie ungerechte Verträge abschließt, die schwerwiegende Folgen haben können. Interessant ist, dass alle Palästinenser zu einer neuen Einheit gefunden haben. Die Zusammenstöße von Nazareth und Jerusalem waren eine Folge der fast apartheidähnlichen Lebensbedingungen der "israelischen Araber", wie sie in Israel bequemerweise genannt werden, als wären es keine Palästinenser. Es handelt sich um über eine Million Menschen, die wenig Rechte haben und systematisch mit Füßen getreten werden. Auch die Palästinenser in Jerusalem, Nazareth und die sehr wenigen, die in Jaffa leben, haben die Hoffnung wiedergefunden, über ihr Schicksal entscheiden zu können und "aus dem Ghetto herauszukommen". Nicht umsonst beunruhigt dies Barak am meisten - und auch hier hat er sich geirrt, weil er glaubte, auf die in Israel lebenden Palästinenser zählen zu können, um die Konflikte in Gaza und im Westjordanland einzugrenzen. Somit finden auch die Palästinenser, die in Jordanien, Syrien, im Libanon und in anderen arabischen Ländern leben, ihre Hoffnung wieder, erneut eine politische Rolle spielen zu können. Möglich sind jetzt viele Szenarien. Wahrscheinlich haben diejenigen recht, die sagen, dass Barak weder Interesse an einem neuen Krieg mit den arabischen Ländern hat - die in den entscheidenden Tagen durch Schweigen und Abwesenheit geglänzt haben -, noch an einer militärischen "Reconquista" der Territorien, die den Palästinensern schon zugestanden wurden. Es ist möglich, dass er die palästinensische Führung nur soweit schwächen will, dass sie ihre politische Glaubwürdigkeit endgültig kompromittiert und ungerechte Verträge unterzeichnet. Das wäre das gefährlichste Szenario, denn es würde das palästinensische Volk in die schwärzeste Verzweiflung stürzen. Niemand darf sich dann über entsprechende Reaktionen wundern. Cinzia Nachira |