Neue Zürcher Zeitung (CH), 14.11.2000
Die Westeuropäische Union am Ende
Selektive Übernahme von Funktionen durch die EU
Die Westeuropäische Union besteht zwar rechtlich als Organisation
weiter, aber sicherheitspolitisch spielt sie keine Rolle mehr. Am Ministertreffen
in Marseille wurden ihre wichtigsten Funktionen an die Europäische
Union übertragen.
lts. Brüssel, 13. November
In Marseille hat der Ministerrat der Westeuropäischen Union (WEU)
beschlossen, dass die operationellen Funktionen der WEU auf Ende Jahr
an die Europäische Union (EU) übergehen sollen. Betroffen sind
das Satellitenzentrum in Torrejón in Spanien und das Institut für
Sicherheitsstudien in Paris, die als EU-Agenturen weitergeführt und
deren Mitarbeiter weiterbeschäftigt werden. Die Spezialisten des
Satellitenzentrums, das über keine eigenen Aufklärungsmittel
verfügt, werten das bei den Betreibern der Satelliten eingekaufte
photographische Material aus. Ausserdem schulen sie Fachleute der WEU-Staaten.
Das von einer ehemaligen französischen Diplomatin geführte Institut
für Sicherheitsstudien besteht seit 1990 und hat zur Aufgabe, durch
seine wissenschaftlichen Arbeiten zur Entwicklung einer europäischen
Verteidigungsidentität beizutragen.
Gegenseitige Beistandsverpflichtung
Die WEU-Minister beschlossen ferner, das laufende WEU-Mandat zur Assistenz
Albaniens bei der Ausbildung von Polizisten zu verlängern, aber künftig
in EU-Regie weiterzuführen. Weil das ebenfalls von der WEU betreute
Projekt zur Minenräumung im ehemals serbisch besetzten Teil Kroatiens
im Frühjahr 2001 ohnehin ausläuft, darf es die WEU selber abwickeln.
Wegender für Februar 2001 geplanten grossen Stabsübung einer
von der WEU geführten und der Nato unterstützten Krisenmanagement-Operation
wird der WEU-Militärstab mit sinkenden Beständen noch bis Mitte
2001 weiterfunktionieren und erst dann aufgelöst. Spätestens
dann werden auch die Routinekontakte zwischen der WEU und der Nato eingestellt.
Formell wird die WEU als Organisation weiterbestehen als Gefäss
für die in Artikel 5 des WEU-Vertrages vorgesehene, allein die zehn
Vollmitglieder betreffende gegenseitige Beistandsverpflichtung. Mit Rücksicht
auf die neutralen Mitgliedstaaten Österreich, Schweden, Finnland
und Irland kann die EU diese Verpflichtung (noch) nicht in ihr eigenes
Vertragswerk integrieren. Politisch bleibt von der WEU aber bloss noch
eineFassade. Zwar stemmt sich die von allen 28 Staaten beschickte Parlamentarische
Versammlung der WEU gegen ihre Auflösung, aber sie wird zu einem
Forum ohne Aufgabe. Die von ihr reklamierte neue Rolle als Organ zur demokratischenKontrolle
der EU-Sicherheits- und -Verteidigungspolitik will ihr die Gemeinschaft
als einer EU-fremden Institution unter keinen Umständen zugestehen.
Distanz zur Nato
Spätestens seit dem Europäischen Rat von Köln im Sommer
1999 stand die faktische Auflösung der WEU fest. Damals fassten die
europäischen Staats- und Regierungschefs den Grundsatzbeschluss,
zur autonomen Konfliktverhütung und Krisenbewältigung durch
die Europäische Union ausserhalb der Nato eigene militärische
Fähigkeiten aufzubauen. Aufgegeben wurde damals die ursprünglich
erwogene Option, dieWEU als militärischen Arm in die EU zu integrieren.
Das neue Konzept beschränkte sich auf die selektive Übernahme
von bestimmten WEU- Funktionen. Die Integration der WEU hätte auch
die Übernahme der Mitgliederstruktur und die Bestätigung der
substanziellen Beteiligungsrechte insbesondere der sechs assoziierten
Mitglieder bedeutet. Der Einbezug von sechs europäischen Nato-Staaten,
die nicht der EU angehören, in die Europäische Sicherheits-
und Verteidigungspolitik ging insbesondere Frankreich gegen den Strich,
hätte allerdings auch der Philosophie von «Köln»
widersprochen.
Die auf Abgrenzung der EU zur Nato und zu den USA bedachten Franzosen
verhinderten selbst die Übernahme des erfahrenen WEU-Militärstabs.
Die EU baut jetzt einen eigenen auf. Wegen ihrer eingespielten Zusammenarbeit
mit der Nordatlantik-Organisation seien die WEU- Offiziere für Paris
zu stark «Nato-kontaminiert», interpretierte ein deutscher
Diplomat den französischen Widerstand.
Einschnitt in Europas Sicherheitspolitik
Das Verschwinden der WEU, die nach Meinung Brüssels ihren Zweck erfüllt
hat, markiert einen scharfen Einschnitt in der europäischen Sicherheitspolitik
der Nachkriegszeit. Nach dem Scheitern der auf militärische Integration
angelegten Europäischen Verteidigungsgemeinschaft1954 am Veto der
französischen Nationalversammlung entstand noch im gleichen Jahr
alsAlternative die WEU zur Einbindung und Kontrolle von Deutschland in
einer neuen europäischen Sicherheitsstruktur. Jetzt, nachdem die
Briten unter Premierminister Blair die traditionelle Skepsis Londons gegenüber
sicherheitspolitischen Alleingängen Europas aufgegeben haben, konzentrieren
sich die Vollmitglieder der WEU, die alle der EU angehören, auf die
in eigener Regie geführte Verteidigungs- und Sicherheitspolitik,
den militärisch-sicherheitspolitischen Pfeiler der Europäischen
Union. Als Ersatz für die aufgelöste WEU sichert Brüssel
den nicht der EU angehörenden WEU-Staaten, insbesondere den mit weitgehenden
Rechten ausgestatteten sechs assoziierten Mitgliedern, vorläufig
bloss eine «ernsthaftePrüfung» der künftigen «angemessen
militärischen Kontakte» im Rahmen dieser Politik zu.
Die WEU und ihre Mitglieder
Vollmitglieder (10): Belgien, Deutschland, Frankreich, Griechenland, Grossbritannien,
Niederlande, Italien, Luxemburg, Portugal, Spanien.
Assoziierte Mitglieder (6): Island, Norwegen, Polen, Tschechien, Türkei,
Ungarn.
Beobachter (5): Dänemark, Finnland, Irland, Österreich, Schweden.
Assoziierte Beobachter (7): Bulgarien, Estland, Lettland, Litauen, Rumänien,
Slowakei, Slowenien.
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