Berliner Zeitung, 15.11.2000 Aufstand im Knast Die Gefängnisse der Türkei werden EU-gerecht gemacht Dilek Güngör Seit Anfang dieser Woche hat die Türkei ein weiteres Hochsicherheitsgefängnis. Es steht in Buca, in der Nähe von Izmir, verfügt über 54 Einzelzellen und 73 Zellen für drei Häftlinge. Das Gefängnis von Buca ist das erste F-Typ-Gefängnis in der Türkei. Hier werden die Insassen in kleinen Zellen untergebracht, während sie in der Regel in großen Gemeinschaftszellen leben. Zehn weitere dieses modernsten Gefängnistyps sollen noch bis zum Ende des Jahres entstehen und andere, bereits bestehende Haftanstalten, nach diesem europäischen Modell umgebaut werden. Mit der Reform des Gefängnissystems und dem Bau des F-Typs erfüllt das Justizministerium die politischen Kriterien, die der Europarat 1993 in Kopenhagen aufgestellt hat. Mehr als 2 000 Häftlinge und ihre Angehörigen sind deswegen in den Hungerstreik getreten. Sie protestieren seit 25 Tagen gegen die Verlegung der Gefangenen in die neuen Hochsicherheitsgefängnisse. Die Häftlinge, ihre Angehörigen und Menschenrechtsgruppen betrachten diesen neuen Gefängnis-Typ als Gefahr für das Leben der Insassen. Sie glauben, dass der Staat die Einzelzellen als Isolationszellen missbrauchen und Häftlinge über Monate hinweg ohne soziale Kontakte einsperren wird. Gefangenenorganisationen sprechen von "stiller Vernichtung" und "weißer Folter". Wer in der Einzelzelle verprügelt oder von der Militärpolizei in die Polizeizentrale abgeschleppt wird, hat, anders als in der engen Gemeinschaftszelle, keine Zeugen. Und noch werden Gefangene in türkischen Strafanstalten gefoltert und misshandelt, vor allem die politischen Häftlinge. In wenigen Wochen sollen die ersten Gefangenen in das Hochsicherheitsgefängnis von Buca verlegt werden. Noch leben die Häftlinge in Gemeinschaftszellen, hundert Menschen oft, in Räumen, in denen es nicht einmal Schlafplätze für halb so viele gibt. Die medizinische Versorgung der Insassen ist verheerend, mehr als 50 Leute teilen sich eine Toilette, überall gibt es Ratten und Kakerlaken. In den Gemeinschaftszellen haben Aufseher und Gefängniswärter keinen Überblick mehr über das, was vor sich geht. Nach Ansicht von Experten steht zum Beispiel das Gefängnis von Diyarbakir faktisch unter der Führung der PKK und nicht des Direktors. Ganze Gefängnistrakte werden von rivalisierenden Gruppen beherrscht. Manche einsitzenden Mafiabosse organisieren selbst ihre Geschäfte draußen vom Gefängnis aus. Erst kürzlich beschlagnahmte die Militärpolizei im Gefängnis in Usak Schusswaffen, Handgranaten und Handys. Militante Organisationen rekrutieren ihre Mitglieder weit gehend in den Gefängnissen. Immer wieder kommt es zu Aufständen und Revolten in den Strafanstalten, nicht selten werden Häftlinge dabei getötet. Seit etwa einem Jahr streiten sich die Politiker im Parlament über den Erlass einer Amnestie für die Gefangenen. Damit soll der Überbelegung der Gefängnisse begegnet werden. Man hofft auch so, wieder Kontrolle über die 72 000 Gefangenen in den Haftanstalten zu gewinnen. Politische Häftlinge allerdings sind von der Amnestie ausgeschlossen. Die Auflösung der Gemeinschaftszellen ist notwendig. Nur so kann verhindert werden, dass sich kriminelle Organisationen ihre Leute in den Zellen heranziehen und ihre Machenschaften später aus der Haft heraus weiterführen. Die Einzelzelle bietet aber gleichzeitig Jenen Schutz und Anonymität, die in den Gefängnissen foltern und misshandeln. Von humanem Strafvollzug kann erst die Rede sein, wenn das Verwaltungssystem transparent gestaltet und die Rechte der Gefangenen klar geregelt werden. Wenn sowohl der Mafia hinter Gittern als auch den Folterern das Handwerk gelegt wird.
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