taz 16.11.2000 Gestautes Wasser als Problem In zweijähriger Recherche ermittelte die Welt-Staudammkommission Ernüchterndes: Mindestens 40 bis 80 Millionen Menschen wurden Opfer von Großstaudämmen. Klimaauswirkungen oft gravierender als bei konventionellen Kraftwerken von ANNETTE JENSEN Was heute in London veröffentlicht wird, kann die Staudammindustrie nicht erfreuen: Die Bilanz der World Commission on Dams (WCD) - nach zweieinhalb jähriger Arbeit vorgelegt - fällt in weiten Teilen fatal aus. Und das, obwohl die 12-köpfige Kommission keineswegs nur aus Staudammkritikern besteht. Vertreten ist auch die Industrie, etwa durch den ABB-Chef Göran Lindahl, dessen Firma am Bau vieler Staudämme beteiligt war. Oder Vorsitzender Kader Asmal, als Exminister für Wasserwirtschaft in Südafrika für einen Großstaudamm verantwortlich. "Ich bin positiv überrascht über die klare Sprache und die Ehrlichkeit des Berichts", sagt Heffa Schücking von der Umwelt- und Menschenrechtsorganisation Urgewald. Zwar komme man an einigen Stellen zu noch krasseren Ergebnissen. Doch immerhin räumt die Kommission ein, dass bis heute mindestens 40 bis 80 Millionen Menschen unmittelbar durch Großstaudämme verdrängt wurden. In dieser Zahl nicht eingerechnet sind die Millionen Menschen, die wegen Folgebauwerken wie Kanälen ihre Wohnorte verlassen mussten, denen flussauf- oder abwärts die Lebensgrundlage abgegraben wurde, weil Fischfang oder Landwirtschaft nicht mehr möglich war. Vielfach wurden die Anwohner gar nicht oder völlig unzureichend an dem Planungs- und Umsiedlungsprozess beteiligt, kritisiert die WCD. Entschieden wurde nach Erkenntnissen der Kommission ein Staudammprojekt häufig von korrupten Bürokraten, die nicht bereit waren, Alternativen zu prüfen. Doch so gut wie niemand musste sich deshalb wegen Bestechlichkeit vor Gericht verantworten, monieren die WCD-AutorInnen. Bisher wurde ein Damm dann errichtet, wenn der erwartete Nutzen die vorausgesagten Kosten überstieg. Doch zum einen wurden laut Bericht die Projekte durchschnittlich um 56 Prozent teurer als zunächst prognostiziert. Zum anderen "ignoriert eine solche Kosten-Nutzen-Rechnung das typische Missverhältnis der Vor- und Nachteilen eines solchen Projekts für die unterschiedlichen sozialen Gruppen." Auch in puncto Ökologie sieht die Bilanz für die weltweit 45.000 Großstaudämme erschreckend aus: Flora und Fauna sind teilweise Hunderte von Kilometern flussauf- oder abwärts nachhaltig gestört. Mancherorts sind die klimarelevanten Auswirkungen von Großstaudämmen schwerwiegender als die fossil betriebener Kraftwerke. Der WCD-Bericht ist Ergebnis intensiver Recherchen. Die Kommission hat nicht nur mehrere Einzelfälle untersucht, sondern auch in Sri Lanka, Brasilien, Ägypten und Vietnam regionale Konferenzen abgehalten, zu denen Betroffene eingeladen waren. Finanziert wurde das Projekt u. a. von der Weltbank und dem Bundesministerium für wirtschaftliche Zusammenarbeit. Eingerichtet worden ist die Kommission 1998 allerdings vor allem auf Druck von weltweit rund 2.000 NGOs. Die hatten Mitte der 90er-Jahre Aufschwung bekommen, nachdem der gewaltlose Protest einer Massenbewegung im indischen Narmadatal die Weltbank zum Ausstieg aus einem Megaprojekt gezwungen hatte. Menschenrechts- und Umweltschutzgruppen fordern zum einen ein Moratorium für neue Staudämme, bis die WCD-Vorschläge in verbindliche Vorgaben umgesetzt sind. Zum Zweiten muss es Unterstützung für die Millionen Vertriebenen sowie Hilfe beim Umgang mit ökologischen Folgeschäden geben, betont Staudammexpertin Birgit Zimmerle von der Umweltorganisation WEED. "Auch deutsche Firmen, die am Dammbau oder am Consulting beteiligt waren oder sind, stehen hier in der Verantwortung." Die Bundesregierung ist ebenfalls gefordert: Die Firma Sulzer Hydro aus Ravensburg hofft gegenwärtig auf eine Hermesbürgschaft für den Ilisu-Staudamm in der Türkei, dessen Errichtung mehreren zehntausend KurdInnen ihre Heimat rauben würde.
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