Süddeutsche Zeitung, 16.11.2000 Ein Staat in der Schwebe Arafat verzichtet erneut auf die Ausrufung der Souveränität - sie brächte Palästina nur Nachteile / Von Heiko Flottau "Im Namen Gottes und des arabischen palästinensischen Volkes proklamieren wir den Staat Palästina auf palästinensischem Boden." So sprach Jassir Arafat. Beifall brandete auf, eine Unabhängigkeitserklärung wurde verlesen - verfasst vom palästinensischen Dichter Mahmut Darwisch. Eine Szene aus Ramallah oder Gaza am 15. November des Jahres 2000? Weit gefehlt. Die hehren Worte sind alt. Gesprochen wurden sie am 15. November 1988 in Algier auf der Tagung des Palästinensischen Nationalrates, des Exilparlaments der Palästinenser. Vor zwölf Jahren kamen die Sätze einer Sensation gleich. Erstmals erkannte Jassir Arafat das Existenzrecht Israels an. Für die Palästinenser forderte er einen eigenen Staat - so wie ihn die UN-Resolution 181 vorsah, in der 1947 die Teilung Palästinas in einen jüdischen und einen arabischen Staat vorgeschlagen wurde. Israel hatte damals den Beschluss akzeptiert, die arabische Welt hatte ihn abgelehnt. In Algier lenkte Arafat auf die UN-Linie ein, versprach Israel Verzicht auf Gewalt, behielt sich aber das Recht auf Widerstand innerhalb der von Israel 1967 besetzten Gebiete vor. Der neue palästinensische Staat sollte pluralistisch, demokratisch, arabisch, blockfrei sein - und natürlich Ostjerusalem zur Hauptstadt haben. Was Israel schon seit 1948 forderte, war also Wirklichkeit geworden: Das Land wurde durch seinen schärfsten Gegner anerkannt. Es war ein Zugeständnis erster Klasse: Vom historischen Palästina überließ Arafat 78 Prozent Israel, nur 22 Prozent beanspruchte er für sein Volk. Israel kontrollierte noch das Westjordanland und Gaza, also ganz Palästina, musste sich aber der ersten Intifada erwehren. Arafat und seine PLO saßen im Exil in Tunis. Heute darf Arafat zwar in Palästina residieren. Und er beherrscht fast neunzig Prozent der dort lebenden Palästinenser. Aber das Territorium kontrolliert er nicht: Lediglich in etwa einem Fünftel jener 22 Prozent des Landes, das den Palästinensern aufgrund von UN-Resolutionen zusteht, darf sich kein israelischer Soldat blicken lassen. Den Rest kontrolliert noch immer Israel - teilweise militärisch, teilweise in einer Mischung aus Militär und zivilen Beamten. Und in Palästina tobt der zweite Aufstand. Zum Jahrestag der Erklärung von Algier verzichtete Arafat auf eine erneute "Staatsgründung", obwohl er sie mehrmals erwogen hatte. Er reagierte damit auf den Druck der USA, aber gegen den Willen der eigenen Bevölkerung. Einer Umfrage der palästinensischen Universität Bir Zeit zufolge sprachen sich 68,5 Prozent aller Palästinenser für eine sofortige Staatsproklamation aus. 80 Prozent forderten gar Selbstmordattentate gegen israelische Ziele (manche beschränkten ihre Zustimmung zu Attacken auf militärische Objekte und Siedler). 75 Prozent sind für eine Fortsetzung des Aufstandes - auch wenn sie dadurch wirtschaftliche Nachteile erleiden sollten. Arafat selbst aber will kein Datum mehr für eine Staatsproklamation nennen. "Wir werden unseren Staat gründen - die Welt wird allenfalls 48 Stunden vorher unterrichtet", lautet die neueste Version. Israel wurde 1948 im Krieg geboren und sofort international anerkannt. Arafat hat einsehen müssen, dass ihm ein solches Privileg vorerst nicht gewährt wird. Eine Proklamation mitten im Aufstand, und sei sie lediglich so symbolisch wie jene von Algier, würde ihm weder von den USA noch von Europa honoriert. Sein Land hätte all die Nachteile eines völkerrechtlichen Bastards zu erleiden. Derweil artet die Intifada aus, mehren sich Guerillaattacken, die mit größter Unnachgiebigkeit geführt werden. Israelische Soldaten werden aus dem Hinterhalt erschossen, die Zahl der getöteten Palästinenser steigt unaufhaltsam. Die politischen Aussichten haben sich indes nicht verbessert. Jassir Arafat fordert die Räumung der besetzten Gebiete. Ehud Barak offeriert einen Staat, dessen Verkehrsachsen durch israelisches Militär kontrolliert werden. Die Israelis versprechen sich Sicherheit, die Palästinenser sprechen von einem Apartheidstaat. Kompromisse sind nicht in Sicht.
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