Frankfurter Rundschau, 17.11.2000 Warten auf Dusche und Hofgang Von Heike Kleffner (Balková) Die kyrillischen Buchstaben sind in die Steinwand der Zelle eingeritzt: "Ich will nach Hause zu Mama" steht da in Russisch über einer Reihe von 14 Strichen. Daneben finden sich chinesische und tamilische Schriftzeichen. So wie sich die Touristen in den umliegenden westböhmischen Städten Plzen (Pilsen) und Karlovy Vary (Karlsbad) in Gästebücher eintragen, haben auch die unfreiwilligen Besucher des tschechischen Abschiebegefängnisses Balková ihre Kommentare hinterlassen. Wer in das gleichnamige Dorf kommt, reist nicht in komfortablen Reisebussen oder deutschen Mittelklasseautos an, sondern in Polizeiwagen und Handschellen. Knapp 80 Kilometer hinter der deutsch-tschechischen Grenze verlässt eine schmale Straße die viel befahrene Europastraße 46 nach Karlsbad und windet sich durch kleine Siedlungen und Wälder, bis sie nach einer Anhöhe abrupt vor Stacheldraht und Wachtürmen endet: Dahinter verbirgt sich eine kameraüberwachte Ansammlung grauer Plattenbauten, die einst als Landschulheim dienten, dann zur Polizeifachschule umfunktioniert wurden und seit zwei Jahren die erste Abschiebehaftanstalt Tschechiens beherbergen. Dort endete in diesem Jahr der Traum von Asyl oder Arbeit in Deutschland, Österreich und Tschechien für rund 3000 Männer, Frauen und Kinder aus Asien und Osteuropa. Über die Hälfte von ihnen wurde vom deutschen Bundesgrenzschutz (BGS) direkt an der deutsch-tschechischen Grenze oder innerhalb der magischen 30-Kilometer-Zone im Grenzbereich aufgegriffen. Was folgt ist Routinearbeit, geregelt durch das 1995 verabschiedete Rückübernahmeabkommen zwischen Deutschland und dem sicheren Drittstaat Tschechien: Eine erkennungsdienstliche Behandlung, die Weitergabe der Daten an das Bundeskriminalamt, eine Strafanzeige wegen "illegalen Grenzübertritts" und manchmal eine Nacht auf einer Holzbank in einer "Schüblingszelle" einer Grenzstation, "die wir gegen die Vorschriften mit Wolldecken ausgestattet haben", sagt Manfred Remmer vom Bundesgrenzschutzamt Pirna. Wer noch dazu vom BGS eine Mahlzeit bekommt und Geld dabei hat, der muss für die Verpflegung selbst bezahlen. Manfred Remmer unterstehen im Dreiländereck Polen, Tschechien und Deutschland für 252 Grenzkilometer rund 2000 Beamte. Sie setzen alles daran, die "Illegalen" innerhalb der 72-Stunden-Frist an die tschechischen Kollegen zu übergeben, sofern sich bei den Festgenommenen irgendein Nachweis auf ihre Reiseroute durch die Tschechische Republik findet. So wie bei Aida aus Armenien. Anfang Oktober fand eine BGS-Patrouille die 30-Jährige nachts in einem Gebüsch auf der deutschen Seite der Neiße. Aida wollte nach Magdeburg, wo ihr Bruder und eine Schwester leben. Ein Visum für Deutschland hatte sie nicht. Jetzt wartet sie auf ihre Abschiebung nach Eriwan. Die knapp 20 Quadratmeter große Zelle teilt sie sich mit einer 20-Jährigen aus Moldawien und der 17-jährigen Ana aus der Ukraine. Die fleckige Matratze auf dem vierten Bett ist leer. Auf dem niedrigen Tisch mit vier am Boden verschraubten Stühlen stehen Essensreste. "Hier kannst Du nichts machen als zu warten", sagt Aida im gebrochenen Englisch. Sie zeigt auf ihre Zellengenossinnen, die teilnahmslos in den Betten liegen. Bücher, ein Radio oder Zeitungen gibt es nicht. Abends läuft auf dem Gang für drei Stunden der Fernseher, der einzige Kontakt zur Außenwelt. Die Anstaltsordnung, die auf Deutsch, Englisch, Russisch, Französisch und mehreren asiatischen Sprachen verteilt wird, gesteht zwar den Gefangenen das Recht zu, zu telefonieren. Doch dafür braucht man eine Telefonkarte, und um die zu bezahlen, Geld. Also wartet Aida: Auf die Dusche, die ihr einmal die Woche zusteht; auf den täglichen einstündigen Ausgang in einem vergitterten Hof oder den Besuch der Anstaltspsychologinnen. Wenn Balková voll belegt ist, betreuen die beiden Psychologinnen rund 300 Abschiebehäftlinge aus einem Dutzend Nationen. Das "ganze Spektrum psychischer Erkrankungen" sei hier anzutreffen, sagen sie. Sozialarbeiter oder Dolmetscher gibt es in Balková nicht. Es sind die Psychologinnen, die Abschiebehäftlinge beraten, die sich entschließen, in Tschechien einen Asylantrag zu stellen. Etwa den 17-jährigen Tamilen Singham und den 16-jährigen Rajvander aus dem Panjab, deren "Reisegruppe" ebenfalls vom BGS aufgegriffen wurde. "Asyl" ist eines der wenigen englischen Wörter, das die Jugendlichen in den schwarz-weiß karierten Häftlingsuniformen kennen. "Asylanträge werden ans Innenministerium in Prag weitergeleitet, und in den meisten Fällen kommen die Antragsteller nach wenigen Tagen in ein Flüchtlingslager", versichert Major Vratislav Hubka, Hausherr von Balková. Doch da Dolmetscher für Tamilisch und Hindi in Tschechien rar sind, warten die beiden Jugendlichen seit 20 Tagen darauf, ihre Fluchtgründe zu Protokoll geben zu können. So lange sind sie - wie alle Männer - im "geschlossenen Regime" von Balková inhaftiert. Im Gegensatz zu Frauen und Familien mit Kleinkindern, die sich in ihrem Trakt frei bewegen können, bleibt die schwere Eisentür ihrer Zelle 23 Stunden am Tag verschlossen. Oft vergehen zwischen Asylantrag und Entlassung in eine der vier großen Sammelunterkünfte für Asylbewerber endlose Wochen. Die in Berlin ansässige Forschungsgesellschaft für Flucht und Migration (FFM) hat mehrere Fälle irakischer und tamilischer Häftlinge aus Balková dokumentiert, deren Asylbegehren erst nach Hungerstreiks und Selbstmordversuchen zur Kenntnis genommen wurden. Am 1. Januar dieses Jahres ist in Tschechien ein neues Ausländer- und Asylgesetz in Kraft getreten. Neben rigideren Visums- und Aufenthaltsbestimmungen für Angehörige osteuropäischer Staaten und einer Drittstaatenregelung, die die Rückführung "illegaler Grenzgänger" in die Slowakische Republik ermöglicht, wurde auch die Höchstdauer der Abschiebehaft von einem auf sechs Monate heraufgesetzt. Vorleistungen des "Transitlands" Tschechien an der Außengrenze der Schengen-Staaten zum EU-Beitritt. Selbst in der Ausländer- und Grenzpolizei stößt die Entwicklung auf Kritik. "Der Harmonisierungsdruck" in der Migrationspolitik führe zu einem Grenzregime zwischen der Tschechischen und der Slowakischen Republik, das nicht gewollt sei, sagt ein hochrangiger Prager Beamter. "Deutschland verlagert seine Abschottungspolitik gen Osten", sagt FFM-Sprecher Dominic John. Die Bedingungen in Balková - insbesondere die völlige Isolation der Abschiebehäftlinge - seien die Zuspitzung dieser Politik. Inzwischen können sich tschechische und deutsche Hilfsorganisationen bei ihrer Kritik an den Verhältnissen in Balková auf eine Gruppe ungewöhnlicher Insider berufen: 31 Deutsche, die hier nach den Protesten gegen die IWF-Tagung in Prag Ende September inhaftiert waren. "Telefongespräche mit Anwälten wurden uns ebenso verwehrt wie medizinische Versorgung", berichtet der 36-jährige Ulrich H. aus Berlin. Nach drei Tagen ohne Hofgang in einer Zelle im geschlossenen Regime von Balková habe er jegliches Zeitgefühl verloren und eine zunehmende Antriebslosigkeit an sich feststellen können. "Dabei wussten wir, dass am Ende der Wartezeit in Balková die Abschiebung nach Deutschland stehen würde." Davon kann Aida aus Armenien nur träumen. |