Neue Zürcher Zeitung 18.11.2000

Nahostfriedensprozess?

Nahostfriedensprozess - leicht suspekt war der Begriff eigentlich bereits seit dessen Einführung vor bald zehn Jahren. Sieben Wochen nach Ausbruch des jüngsten Palästinenseraufstands stehen die Aussichten auf einen umfassenden Nahostfrieden erneut schlecht. Die Aksa-Intifada ist mehr als nur ein Strohfeuer. Die täglichen Konfrontationen im Westjordanland und im Gazastreifen gefährden die ohnehin prekäre Stabilität einer stets unruhigen Weltgegend. Diktaturen, Erdöl, religiöser Fanatismus und ethnischer Chauvinismus bilden jenes explosive Gemisch, das Friedensstifter verzweifeln lässt.

Das Postulat arabischer Einheit und Brüderlichkeit vermag die enormen wirtschaftlichen und sozialen Gegensätze in der Region nicht zu überdecken. Manch ein Kuwaiter verdient in einem Tag mehr als ein ägyptischer Taglöhner in seinem ganzen Leben. Homogenität stiftet allenfalls Arabisch als gemeinsame Hochsprache vom Maghreb über Ägypten, das Zweistromland, und die Golfhalbinsel bis zur Levante; die Farsi sprechenden Iraner sind mit dem Nahen Osten religiös eng verbunden. Als Stifterin von Eintracht aber dient die Religion nicht. Die Nachfolgeregelung des Propheten Mohammad entzweit Schiiten undSunniten, und die in zahllose Gemeinschaften zersplitterten Christen in Ägypten, Palästina, Libanon, Syrien und im Irak sind stets auf der Hut, um von der muslimischen Mehrheit nicht verdrängt zu werden.

Bis vor der Gründung des Staates Israel lebten in allen Ecken des Nahen Ostens auch Juden. Sie waren eine der zahllosen Minderheiten, die sich in den Städten niedergelassen hatten und mit Handel oder Handwerk ihr Auskommen fanden. Vor und vor allem nach dem ersten arabisch-israelischen Krieg von 1948 organisierte die Jewish Agency deren Immigration nach Israel. Einige der arabischen Juden kamen freiwillig, andere, weil sie aus ihren nahöstlichen Herkunftsländern gewaltsam vertrieben worden waren.In Israel trafen sie auf hellhäutige und blauäugige Juden aus Europa, deren Kultur ihnen ebenso fremd war wie das kollektive Trauma des Holocausts. Der sprachlichen Verständigung diente Ivrith, eine von dem Gelehrten Elieser Ben Jehuda reformierte Version des alttestamentarischen Hebräisch. Ideellen Halt fanden die Einwanderer im politischen Zionismus, wie ihn Theodor Herzl in seinem 1895 erschienenen Buch «Der Judenstaat» skizziert hatte. Vereint war die junge Nation in ihrer Angst um die eigene Existenz. Und Israel verteidigte sie erfolgreich in bisher drei Kriegen gegen die arabischen Nachbarn.

Sicherheit aber ist niemals nur eine Frage der Bewaffnung. Wie sonst wäre es möglich, dass einige zehntausend Palästinenser mit Steinen, Molotowcocktails und Gewehren die stärkste Militärmacht der Region in Atem zu halten vermögen? Der Streit um Palästina ist wieder einmal entflammt, mit Waffen allein lässt er sich unmöglich beilegen. Das jüngste Blutvergiessen, das auf palästinensischer Seite ungleich mehr Opfer fordert, hat Schockwellen in der ganzen Region ausgelöst. Die überwunden geglaubte israelisch-arabische Konfrontation ist in den Köpfen wieder voll entbrannt.

Einen Nutzen aus der verfahrenen Situation hat bisher nur einer gezogen: Saddam Hussein. Wie schon bei der letzten Nahostkrise nach dem irakischen Überfall auf Kuwait hat die Popularität des irakischen Diktators in der Region neue Höhen erreicht. Zeitungen im Westjordanland sind des Lobes voll über den starken Mann in Bagdad, und das nicht nur, weil er verwundete Palästinenser zur Pflege in den Irak fliegen liess. Israels erdrückende militärische Dominanz über die Palästinenser, wie sie täglich am Fernsehen zu sehen ist, wird als arabische Schmach empfunden. Für Millionen in der ganzen Region verkörpert Saddam die Rettung arabischer Ehre. Er hat gegen Israels Protektor Amerika einen Kampf geführt und nicht verloren. Dass er Massenvernichtungswaffen nicht nur im Krieg mit Iran, sondern auch gegen die eigene kurdische Bevölkerung eingesetzt hat, wird in der arabischen Welt auch heute noch konsequent verschwiegen.

Den Politikern der Region ist Saddams wiedergewonnene Popularität nicht entgangen. Am arabischen Gipfel in Kairo war nach langer Absenz erstmals wieder eine hochrangige irakische Delegation zugelassen, und beim Treffen der Islamischen Konferenzorganisation in Katar wurde die Normalisierung der Beziehungen zwischen denGolfländern und dem Irak weiter vorangetrieben. Ein Mitglied der katarischen Herrscherfamilie überreichte am Freitag in Bagdad gar aus Sympathie zu Saddam einenblitzblanken Jumbo-Jet. Gleichzeitig hofieren europäische Geschäftsleute seit geraumerZeit das irakische Henkersregime. Die schleichende Rehabilitierung eines der übelsten Politiker des Jahrhunderts ist nicht nur aus ethischer Sicht ein Skandal ersten Ranges; einem unberechenbaren Massenmörder freie Bahn zu gewähren, ist sicherheitspolitisch verheerend. Der arabische Schulterschluss wird bereits als Barak-Effekt bezeichnet.

Die Denkweise des ehemaligen Generalstabschefs Barak ist von seiner Berufslaufbahn geprägt. Andere als militärische Mittel gegen einen Volksaufstand einzusetzen, ist aus seiner Sicht ein Schwächezeichen. Mit dieser Haltung weiss Barak eine grosse Mehrheit seiner Mitbürger hinter sich, obwohl damit weder Israel noch seine Gegner auch nur einen Schritt weiterkommen. Ganz im Gegenteil. Solange Israel als Feindbild die Araber zu einigen vermag, ist der jüdische Staat immer in Gefahr. Die weltweit grössten Ölvorkommen liegen nun einmal nicht in Israel, sondern am Golf. Noch steht für die nahöstlichen Produzentenländer ein Einsatz der Ölwaffe nicht zur Diskussion. Eine markante Drosselung der Produktion würde den ohnehin hohen Erdölpreis weiter steigen lassen, mit unabsehbaren Folgen für die Weltwirtschaft. Der Barak-Effekt könnte ein solches Szenario begünstigen.

Auch in Europa droht die während langer Zeit gehegte Sympathie gegenüber dem Sonderfall Israel in ihr Gegenteil umzuschlagen. Nicht verstanden wird hier, dass der jüdische Staat sich von einer kleinen Schar extremistischer Siedler aus den eigenen Reihen erpressen lässt. Denn eines zeigt die Aksa-Intifadain aller Deutlichkeit: Die Wut der Palästinenser entlädt sich an den im Gazastreifen und in Cisjordanien verstreuten jüdischen Enklaven. Sie werden nicht nur als Symbol eines israelischen Hegemonieanspruchs in diesen Gebieten empfunden, sie stehen auch der Bildung eines funktionsfähigen palästinensischen Staats im Weg. Einen rationalen Grund, an ihnen festzuhalten, hat Israel nicht. Die jüdischen Siedler betrachten das von ihnen beanspruchte Land als von Gott verheissen. Seit 1967 wagte keiner der israelischen Ministerpräsidenten, ihnen die Stirn zu bieten, obwohl internationales Recht sie dazu verpflichtet hätte. Wenn Juden andere Juden aus Hebron, Gush Etzion oder Bet El vertrieben, gälte dies vielen in Israel als Verrat an Herzls Vermächtnis.

Dabei könnte Herzl auch anders interpretiert werden. Seine Sorge galt einer sicheren Heimstätte für die Juden. Langfristig lässt sich Sicherheit nur dann erreichen, wenn Israel als Staat von allen Nachbarn akzeptiert wird. Regionale Integration aber, das zeigen die jüngsten Ereignisse, ist ohne eine gütliche Regelung des Konflikts mit den Palästinensern nicht möglich. Dazu muss in Israel aber erst die Bereitschaft wachsen, sich und andere als gleichberechtigte Partnerländer im Nahen Osten zu sehen. Ohnediese Absicht zur Integration wird der Nahostfriedensprozess immer ein leicht suspekter Begriff bleiben. Wok.