Neue Zürcher Zeitung 18.11.2000 Türkische Mühen im Umgang mit Opposition Die Armee bestätigt die Existenz einer schwarzen Liste Die Existenz einer von der Armee erstellten schwarzen Liste mit den Namen prominenter Persönlichkeiten bewegt seit Monaten die türkische Öffentlichkeit. Wiederholt stellt sich dabei das Problem der Einmischung des Generalstabs in die Politik. Die Entflechtung dieser Machtballung ist eine der Voraussetzungen für einen EU-Beitritt. it. Istanbul, 17. November Von der Existenz eines sogenannten Andic- Plans hat zuallererst Nazli Ilicak, eine Abgeordnete der islamistischen Tugendpartei (Fazilet) undJournalistin der Tageszeitung «Yeni Safak», berichtet. Laut ihren Ausführungen ist der ominösePlan im Frühling 1998 in den Räumen des Generalstabs entwickelt worden, um legale Oppositionsparteien wie die Fazilet und die prokurdische Hadep-Partei, Abgeordnete und Geschäftsleute, prominente Menschenrechtler sowie regimekritische Journalisten mittels öffentlicher Verleumdung in den Medien zu diskreditieren. Der Plan gehe zurück auf eine Initiative vom General Cevik Bir, der 1998 zweiter Mann im Generalstab war, sowie auf General Erol Özkasnak, den ehemaligen Generalsekretär des mächtigen NationalenSicherheitsrates, schrieb am 21. Oktober die Journalistin Ilicak. Obwohl ihre Enthüllungen die inder Türkei unantastbaren Sicherheitskräfte betrafen, reagierte Ankara darauf tagelang mit eisernem Schweigen. Am 1. November organisierte Ilicak im Parlament eine Pressekonferenz und verteilte Kopien des Andic-Planes. Dabei forderte sie Ministerpräsident Ecevit auf, die Echtheit des Dokument abzuklären, und wollte wissen, ob die Regierung über die Existenz dieses Planes informiert worden war. Ein Schuldgeständnis? Die Antwort kam überraschenderweise direkt vom Generalstab. Das Dokument sei echt, hiess es in einer schriftlichen Erklärung. Im Generalstab würden gelegentlich Pläne entworfen, diesich auf Informationen der Geheimdienste stützten. Viele dieser Pläne kämen nicht zur Ausführung, und so sei auch dieser Plan nie ausgeführt worden. In ihrer langen Erklärung nahm die Armeeführung die Initianten des Plans voll in Schutz. Die türkischen Sicherheitskräfte setzten ihren Kampf gegen die Terrororganisation PKK fort, heisst es. Ein Teil dieses Kampfes bestehe darin, gegen in- und ausländische Elemente, welche die blutrünstige PKK moralisch unterstützten,vorzugehen. Weiter beschuldigte die Armeeführung die Fazilet-Abgeordnete Ilicak, aus Eigeninteressen das Ansehen der Armee beschmutzen zu wollen und sich das Dokument auf illegalem Weg beschafft zu haben. Die Erklärung des Generalstabs überraschte die Presse. Zum ersten Mal in der Geschichte der Türkei gab die mächtige Generalität dunkle Machenschaften ihrer Mitglieder öffentlich zu. Bedeutet dies, dass sie sich über jegliche Kritik erhaben fühlt, wie ein Journalist vermutet? Oder war es eher der Versuch, eine Versöhnung mit politischen Dissidenten einzuleiten und unter die drei letzten schwierigen Jahre einen Schlussstrich zu ziehen, wie die Tageszeitung «Hürriyet» glaubt? Mit dem Argument, Fundamentalisten des politischen Islam hätten alle Sektoren der türkischen Gesellschaft infiltriert und bedrohten die Fundamente der Republik, hatte die türkische Armeeführung im Februar 1997 sich in die Tagespolitik eingemischt und kurz danach die Regierung des Islamistenführers Erbakan zum Rücktritt gezwungen. Ein eigener PR-Stab, offenbar von General Cevik Bir geleitet, informierte regelmässig Staatsanwälte, Medien und Richter über den bedrohten Laizismus. Zudem wurde ein neues Netz der Informationsdienste der Armee, genannt West-Gruppe, errichtet, das in Universitäten, in öffentlichen Diensten und in der Wirtschaft Islamisten nachspüren sollte. Der Andic-Plan von 1998 zielte auf Dissidenten, denen man kaum Fundamentalismus vorwerfen konnte. Auf einer schwarzen Liste waren etwadie Namen des kurdischen Abgeordneten Abdulmelik Firat, des prominenten Menschenrechtlers Akin Birdal sowie der bekannten Journalisten Mehmet Ali Birand, Cengiz Candar und der Gebrüder Altan. Diese wurden beschuldigt, im Solde der PKK zu stehen. Damals war in den Medien überall zu lesen, der abtrünnige PKK-Feldkommandant Semdin Sakik habe der Armee Kontaktedieser Individuen zur PKK gestanden. Das Geständnis Sakiks erwies sich später als ein fabriziertes Werk des PR-Stabs von General Bir. Die Folgen für die Betroffenen waren aber verheerend. Der Menschenrechtler Birdal wurde wenige Tage nach der Hetzkampagne in seinem Büro von den Schüssen zweier Nationalisten schwer verletzt. Er hat überlebt, kann aber seine rechte Hand nur noch mit Schwierigkeiten benützen. Der angesehene Kolumnist Mehmet Ali Birand wurde fristlos entlassen, während der Nahostexperte Cengiz Candar sich nur noch zu unverfänglichen Themen äussern dürfte. Ein Hindernis auf dem Weg in die EU Candar spricht heute von einer «Dreyfus- Affäre» der Türkei, in der allerdings der türkische Emile Zola nicht existent sei. Das PR-Büro des Generals Bir habe in den letzten drei Jahren den Redaktionen der Medien den Inhalt der Berichterstattung diktiert, und diese hätten die Order ohne Nachfragen erfüllt. Der Generalstab würde sich selber und dem Lande einen grossen Dienst erweisen, wenn er endlich aufhörte, sich über alle drei Gewalten hinwegzusetzen, schrieb Candar als Reaktion auf die Erklärung des Generalstabs. Mitte November hat Frau Ilicak die Existenz von zwei weiteren, offenbar erst in diesem Jahr vom Generalstab ausgearbeiteten Dokumenten enthüllt. Im ersten werden die linken Politiker der Republikanischen Volkspartei (CHP), die nach dem Waffenstillstand im kurdischen Südosten eine Zusammenarbeit mit der prokurdischen Partei Hadep befürwortet haben, in den Schmutz gezogen. Im zweiten Dokument wird laut Ilicak die Stellungnahme aller Parlamentsparteien zu den von der EU geforderten Verfassungsänderungen unter die Lupe genommen. Offenbar schlägt der Generalstab die Bildung einer neuen Kommission vor, die untersuchen soll, welche der geforderten Änderungen die Grundprinzipien der Republik gefährden könnten. Die Resultate müssen vom Nationalen Sicherheitsrat den Parteien mitgeteilt werden. Der Sicherheitsrat, ein Ausschuss der zivilen und militärischen Führung des Landes, legt seit Jahren die Grundlinien der Innen- und Aussenpolitik fest und bestimmt Verteidigungsfragen sowie die Bildungs- und Wirtschaftspolitik. Dabei zählt die Meinung der Generäle immer etwas mehr als jene der Zivilisten. Kann eine derartige Dominanz der Armee auf die Politik des Landes mit einem EU-Beitritt vereinbar sein, fragte sich Ilicak. Die EU-Kommission hat in ihrem vor kurzem veröffentlichten Fortschrittsbericht zur Beitrittskandidatin Türkei eine zivile Kontrolle der Armee gefordert. In Brüssel hat sich offenbar die Überzeugung durchgesetzt, wonach die Türkei die politischen Kriterien der EU in Bezug auf Meinungs- und Religionsfreiheit sowie auf kulturelle Rechte für Minderheiten nie erfüllen könne, so lange der Nationale Sicherheitsrat seine dominante Rolle beibehält. Bei der heutigen Zusammensetzung des Nationalen Sicherheitsrates sei ein EU-Beitritt undenkbar, meint ein Armee-Experte. Ist die Dominanz der türkischen Armee das Haupthindernis auf dem Weg der Türkei in die EU? Inakzeptable Forderungen Die türkische Armeeführung hat den EU-Beitritt als strategisches Ziel bezeichnet. Der neue Generalsekretär des Nationalen Sicherheitsrates, Aslan Güner, erklärte am Dienstag, dass die Türkei nicht alle Forderungen der EU bedingungslosakzeptieren könne. Zu den inakzeptablen Forderungen zählte der General die Lösung der Zypernfrage, die Zulassung von Fernseh- und Radiosendungen auf Kurdisch sowie die Meinungs- und Religionsfreiheit; also ausgerechnet alles, was die EU als Prioritäten nennt. Eine zivile Kontrolle über die Armee wird in der Türkei von vornherein ausgeschlossen. Interessanterweise vertritt die Koalitionsregierung immer lauter den Standpunkt der Armeeführung. Sie hat die Überlegenheit der Generäle offenbar längst akzeptiert. |