Bremer Nachrichten 18.11.2000 Lieber "Leitkultur" als kurdisches Fernsehen EU-Wünsche bereiten Nationalisten in Türkei Sorgen Von unserer Korrespondentin Susanne Güsten Istanbul. "Leitkultur"? Ja bitte - die Türken sind dafür! Zumindest sind es die national gesinnten Türken in Regierung, Militär und Presse in Ankara - wenn es um die türkische Leitkultur geht, die sie durch die Multikulti-Politik der Europäischen Union gefährdet sehen. "In einem einheitlichen Staat muss es eine Wertegemeinschaft von allen Grundwerten geben", sagt etwa Verteidigungsminister Sabahattin Cakmakoglu von der ultra-rechten Partei des Nationalen Aufbruchs (MHP). "Es muss auch eine gemeinsame Sprache und eine gemeinsame Kultur geben." Mit dieser Argumentation wehrt sich die türkische Rechte gegen die Forderung der EU, die Türkei solle kurdischsprachige Sendungen im Fernsehen und kurdischen Unterricht an ihren Schulen zulassen. "Das würde das Wertesystem zerstören, das uns zusammenhält", warnt Cakmakoglu. In ihrer vergangene Woche vorgelegten "Beitrittspartnerschaft" für die Türkei formuliert die EU eine lange Liste von Kriterien, die Ankara vor der Aufnahme von Beitrittsgesprächen erfüllen muss. Abschaffung der Todesstrafe, Ende der Folter, Stärkung der Zivilgesellschaft, Reform der Justiz und Beschränkung des militärischen Einflusses auf die Politik sind nur einige dieser Forderungen, die in der Türkei überwiegend ohne großes Murren geschluckt wurden. Es gibt noch viel zu tun, bis die Türkei europafähig ist, das weiß man auch in Ankara. Nur zwei der mehreren Dutzend EU-Kriterien bleiben der türkischen Regierung im Hals stecken: Die Forderungen nach Zulassung kurdischen Fernsehens bis Ende nächsten Jahres und nach Einführung kurdischsprachigen Schulunterrichts bis zum Jahr 2004 lassen viele Türken um die Einheit von Staat und Gesellschaft fürchten. Wenn nun kurdisches Fernsehen eingeführt werde, "dann kommen doch morgen die nächsten daher und wollen auf Arabisch senden", sorgt sich der nationalistische Leitartikler Emin Cölasan in der Zeitung "Hürriyet" über die starke arabisch sprechende Minderheit im Süden des Landes. "Und was machen wir dann?" Mit Rücksicht auf die türkischen Empfindlichkeiten nannte die EU die Kurden in ihrem Dokument nicht beim Namen, sondern formulierte diplomatisch, alle türkischen Staatsbürger sollten in ihrer "Muttersprache" fernsehen können. Selbst dem Europa-Minister Mesut Yilmaz, der eigentlich für die Erfüllung aller EU-Kriterien eintritt, bereitet dieser Punkt noch Sorgen. Es gebe in der Türkei ja auch Bürger, die Arabisch oder den iranischen Dialekt Zaza sprächen, bemerkte Yilmaz, dem dabei zweifellos auch die jeweils eigene Muttersprachen sprechenden Lazen, Griechen, Armenier und anderen Minderheiten im Kopf herumspukten. "Wie wir das mit Rücksicht auf unsere besonderen Bedingungen und unsere nationale Einheit lösen sollen, das müssen wir noch sehen." Was schon dem europa-begeisterten Yilmaz Bauchschmerzen bereitet, könnte sich für die türkische Armee als verfassungsmäßige Hüterin der nationalen Einheit als unverdaulich erweisen. Auch die MHP, die mit ihrem Parteichef Devlet Bahceli immerhin den Vize-Ministerpräsidenten stellt, erteilte diesem EU-Kriterium eine klare Absage. Besonders griffig fomulierte MHP-Generalsekretär Abdurrahman Kücük die Befürchtung der türkischen Nationalisten: "Wenn ein Stein herausgenommen wird, dann stürzt die ganze Mauer ein." |