Sonntags Zeitung, 19.11.2000 Öcalan: Europa soll entscheiden Der Führer der PKK verlangt vor dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte die Aufhebung des Todesurteils VON JOERG DIETZIKER Strassburg/Ankara - Für die Anhänger von Abdullah Öcalan ist es schlicht «der Jahrhundertprozess», für die Türkei dagegen «das Unterfangen eines rechtmässig verurteilten Terroristen»: die erste Anhörung in Sachen Öcalan gegen die Türkei vor dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte, die am Dienstag beginnt. Öcalan appellierte in Strassburg gegen das Todesurteil, das am 29. Juni 1999 gegen ihn verhängt wurde. Er verlangt, «dass alle notwendigen Schritte unternommen werden, um die Vollstreckung des Urteils zu verhindern». Öcalans Anwälte klagen die Türkei im Wesentlichen in drei Punkten an: - Die türkische Justiz verneine kurdische Rechte grundsätzlich und habe deshalb ein parteiisches Verfahren durchgeführt. Der Hochverratsprozess sei mit Ungereimtheiten gespickt und deshalb unfair gewesen. - Die Überführung Öcalans von Kenya in die Türkei habe dessen Individualrechte und das Völkerrecht verletzt. - Die Isolationshaft auf der Gefängnisinsel Imrali im Marmarameer widerspreche der Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK). Nach der ersten Anhörung wird das Gericht in Strassburg entscheiden, ob es, wie allgemein erwartet wird, materiell überhaupt auf Öcalans Klage eintreten will. Die Verhandlungen platzen mitten in eine heftige Auseinandersetzung zwischen den Koalitionspartnern der türkischen Regierung. Während der Minister für EU-Angelegenheiten, Mesut Yilmaz von der konservativen ANAP-Partei, dem Recht auf kurdische Rundfunksendungen das Wort redet, sieht die nationalistische Bewegungspartei (MHP) von Devlet Bahceli darin weiterhin eine Gefahr für die Einheit der Türkei. Treten die europäischen Richter auf Öcalans Klage ein, dürfte das Verfahren zwei bis drei Jahre dauern. Das käme der türkischen Regierung durchaus gelegen. Erstens bietet der Häftling Öcalan Gewähr dafür, dass seine Guerilla demobilisiert bleibt. Zweitens hat er mit seiner plötzlichen Beschwörung des Erbes von Atatürk Zwietracht in den eigenen Reihen gesät, genau so, wie Ankara es erhofft hatte. Drittens will ausser der MHP und deren Basis in der Türkei niemand mehr wirklich die Hinrichtung Öcalans. Die Regierung hofft, dass der Europäische Gerichtshof für sie die Kohlen aus dem Feuer holt und sich gegen das Todesurteil ausspricht. So könnte man vor der eigenen Bevölkerung das Gesicht wahren und einen Verzicht auf Öcalans Hinrichtung damit rechtfertigen, dass man einen EU-Beitritt nicht gefährden dürfe. Schliesslich gewinnt die Türkei durch das Strassburger Verfahren Zeit, um auf sanften Druck Europas hin das sechste Zusatzprotokoll der EMRK zu ratifizieren und dadurch die Todesstrafe abzuschaffen. Statt am Strang dürfte Abdullah Öcalan schliesslich in verschärfter Isolationshaft enden.
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