Frankfurter Rundschau, 21.11.2000 IM BLICKPUNKT Öcalan hält wieder Grenzer in Atem Todesurteil gegen PKK-Chef wird in Straßburg verhandelt Von Karl-Otto Sattler (Straßburg) Schengen-Vertrag hin oder her: Am heutigen Dienstag stehen die Grenzübergänge zwischen dem Saarland und Basel unter Bewachung, vor allem an der Europabrücke bei Straßburg dürften die französischen Grenzer kontrollieren. Auch in der elsässischen Stadt ist die Polizei in Alarmbereitschaft versetzt worden. In der Türkei wurden in der Stadt Van 100 von 500 Pro-Öcalan-Demonstranten festgenommen. Der Grund: Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (ECHR) berät über den in der Türkei zum Tode verurteilten Führer der verbotenen Kurdenpartei PKK, Abdullah Öcalan; daher werden Demonstrationen von PKK-Sympathisanten vor dem Palais d'Europe erwartet. Laut einer Sprecherin des Europarats wollen Anhänger Öcalans aus mehreren Ländern anreisen. Das Verfahren des PKK-Chefs wegen der gegen ihn in der Türkei verhängten Höchststrafe ist der zweite spektakuläre Prozess vor der höchsten Justizinstanz Europas in diesem Jahr. Anfang des Monats wurde im Glaspalast an der Ill der Fall des ehemaligen SED-Chefs Egon Krenz erörtert: Der ficht vor den 41 Richtern seine Strafe wegen der Todesschüsse an der Mauer an. Während ihm Berlin über Hafturlaub die Teilnahme an seinem Verfahren in Straßburg ermöglichte, muss Öcalan in seinem Gefängnis bleiben - obwohl ein internationales Abkommen Beschwerdeführern die Anwesenheit bei Verhandlungen vor dem Gerichtshof im Prinzip gestattet. Wie Krenz kann Öcalan mit einer Entscheidung über seine Eingabe erst im Frühjahr rechnen. Die türkische Justiz hatte den Kurden 1999 wegen Separatismus und der Bildung einer terroristischen Bande zum Tode verurteilt. Mit ihrer Klage gegen diesen Spruch machen Öcalans Anwälte nach einer Mitteilung des Straßburger Gerichts gleich mehrere Verstöße gegen die Menschenrechtskonvention des Europarats geltend. So habe der Prozess in der Türkei nicht den in der Charta verankerten rechtsstaatlichen Standards genügt. Die vom Geheimdienst im Februar 1999 organisierte Verschleppung Öcalans aus Kenia habe Artikel fünf der Konvention widersprochen, der eine "rechtmäßige Festnahme" verlangt. Verstoßen worden sei auch gegen Artikel drei, der "Folter oder unmenschliche oder erniedrigende Strafe oder Behandlung" untersagt. Nach Auffassung der Anwälte wurde ihr Mandant zudem wegen seiner Zugehörigkeit zu einer nationalen Minderheit benachteiligt. In dieser rechtlichen Gemengelage geht es vor allem um die Verhängung der Todesstrafe gegen Öcalan. Der Straßburger Gerichtshof steckt aber dabei in einem Dilemma. Die Menschenrechtskonvention verbietet im Grundsatz die Todesstrafe. Das entsprechende Zusatzprotokoll der Charta von 1950 trat erst 1985 in Kraft. Anders als die nach dem Fall des Eisernen Vorhangs 1989 vom Europarat neu aufgenommenen Länder Osteuropas mussten sich die Altmitglieder wie die Türkei aber nicht auf die Einhaltung dieses Protokolls verpflichten. Zwar wurden dort 1984 keine Todesurteile mehr vollstreckt, doch hat Ankara trotz des internationalen Drucks die Bestimmungen über die Abschaffung der Todesstrafe immer noch nicht anerkannt. Die Straßburger Richter haben die Türkei schon häufig wegen Verletzung der Menschenrechtskonvention verurteilt. Im Fall Öcalan kamen von der Parlamentarischen Versammlung des Europarats entsandte Prozeßbeobachter jedoch zu der Auffassung, die türkische Justiz habe die Rechte des Angeklagten auf angemessene Verteidigung gewährleistet. Solche Berichte sind freilich für den Gerichtshof nicht bindend. |