junge Welt, 23.11.2000 Schönbohm gegen »politisierte Kirche« Fürbitte in Seelower Stadtkirche: Vietnamesischer Familie droht Abschiebung Das Verhalten der evangelischen Kirche sei verwunderlich. Die Politisierung der Kirche stehe in einem direkt proportionalen Verhältnis zum Rückgang ihrer Glaubensverkündigung. - Das sind keine Gedanken aus einer Grundsatzrede Erich Honeckers über die Haltung der SED zur »Kirche im Sozialismus«. Innenminister Jörg Schönbohm hat in dieser Art auf einen Brief von Generalsuperintendent Rolf Wischnath reagiert, der es gewagt hatte, die Landesregierung an das Gebot der christlichen Nächstenliebe und Barmherzigkeit bei der Behandlung von Flüchtlingen zu erinnern. »Daß Brandenburg in Deutschland zu den Hardlinern in der Asylrechtshandhabung gehört, ist ein richtiger Skandal«, erklärte der evangelische Theologe am Rand einer öffentlichen Fürbitte, bei der am Dienstag abend mehr als dreihundert Menschen die Stadtkirche in Seelow füllten. Sie protestierten gegen die drohende Abschiebung der vietnamesischen Familie Nguyen, die seit zehn Jahren in Deutschland lebt und deren beide Kinder in Deutschland geboren wurden. »Ihr dramatisches Schicksal steht für das von 500 weiteren Flüchtlingen, deren ganzes Unglück darin besteht, in Brandenburg zu leben«, so Sabine Grauel vom Flüchtlingshilfekreis Seelow. In zehn anderen Bundesländern gibt es längst liberale Durchführungsbestimmungen zur 1999 beschlossenen Altfallregelung. Sie gestatten es Flüchtlingsfamilien, die seit mindestens 1993 in Deutschland leben, bei Aussicht auf Arbeit und Wohnung weiter in Deutschland zu leben. Anders in Brandenburg: Hier müssen Wohnung und Arbeitsplatz mit dem Stichtag 19. November 1999 nachgewiesen sein - ungeachtet der Tatsache, daß es den meisten Betroffenen kraft Verbot gar nicht möglich war, aus Asylbewerberheimen auszuziehen oder eine Arbeit aufzunehmen. Zweimal war im Landtag darüber diskutiert worden. Zweimal wurde eine Liberalisierung abgelehnt. Am 31. Dezember läuft die Regelung aus. Abschiebung heißt das für jene, die sich Hoffnung auf ein integriertes Leben machten. Das ist Recht und Gesetz. Die »Kerzenfummelei«, wie Schönbohm friedliches Engagement abfällig nannte, wird daran wenig ändern, meint der Altgeneral. Die Landessynode hat sich einem Beschluß der Kreissynode Oderbruch angeschlossen und fordert das Bleiberecht für die vietnamesische Familie Nguyen und die anderen Flüchtlinge. Nachdrücklich setzt die Kirche sich für die Bildung einer Härtefall-Kommission ein und plädiert für eine großzügigere Anwendung der Altfallregelung durch das Land Brandenburg. An Landrat Jürgen Reinking appelliert sie, seine ablehnende Haltung zu überdenken. Auch der Vorsitzende der SPD-Fraktion im Landkreis Märkisch-Oderland, Gunter Fritsch, solidarisiert sich mit den Betroffenen: »Paragraphen ersetzen nicht Nächstenliebe und Menschlichkeit.« Die PDS-Landtagsabgeordnete Kerstin Kaiser-Nicht erklärte, daß »alle Eltern das Recht haben, einen Lebensort auf der Welt zu wählen, wo sie für sich und ihre Kinder eine Zukunft sehen. Ein Gesetz, das Menschen ins Ungewisse schickt, ist unmenschlich.« Politiker sollten anderen wenigstens zubilligen, was sie für sich selbst in Anspruch nehmen. Alles andere sei schizophren. Das Netzwerk für Toleranz und Integration in Märkisch-Oderland, dem 27 Institutionen und Privatpersonen angehören, meldete »Zweifel an der Wahrhaftigkeit politischer Lippenbekenntnisse« an, die nicht einmal ausreichten, der Familie Nguyen ein selbstverständliches Bleiberecht zu gewähren. Von der christdemokratischen Union fand sich kein Politiker in der Kirche, wie auch Wischnath feststellte. Leute wie Rainer Eppelmann und seine Parteifreunde im Land sollten sich »einsetzen im Sinne dessen, was sie als Partei zu Grundwerten erhoben haben«, unterstrich Wischnath, bevor er nach Cottbus weitereilte. Dort war der Familienvater einer vietnamesischen Familie am Dienstag in Abschiebehaft genommen worden. Martin Zippendorf
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