taz 23.11.2000 Illegale Arbeiter sind gefragt Trotz der EU-Osterweiterung wird die erwerbsfähige Bevölkerung in Europa zurückgehen. Bisher fehlt der Mut, dies auch einzugestehen aus Brüssel DANIELA WEINGÄRTNER Otto Schily müssen die Ohren geklungen haben. Ausgerechnet an dem Tag, an dem sein Kanzler der Brüsseler EU-Kommission einen Besuch abstattete, ging diese mit einem umfassenden Diskussionsvorschlag für eine harmonisierte Einwanderungspolitik in Europa an die Öffentlichkeit. Derzeit mauern die Deutschen - allen voran das SPD-geführte Innenministerium - mehr als andere EU-Länder, wenn es um gemeinschaftliche Mindeststandards für Migration und Asyl geht (siehe auch Seite 2). Diesen Bereich blockiert Deutschland auch in den Verhandlungen vor Nizza. Der Rat soll weiterhin nur einstimmig entscheiden. Dabei ist bereits im Amsterdamer Vertrag festgeschrieben, dass bis 2004 eine gemeinschaftliche Asyl- und Migrationspolitik formuliert sein muss. Auf diesen Rechtsetzungsauftrag beruft sich auch die Kommission bei ihren Forderungen. Die beiden gestern in Brüssel vorgelegten Papiere - eins über gemeinschaftliche Einwanderungspolitik, das zweite über harmonisierte Asylverfahren - sind ein Appell an die Vernunft. "Tragische Zwischenfälle wie der in Dover im Juli 2000, wo 58 chinesische Staatsbürger starben, machen nicht nur deutlich, wie wichtig der Kampf gegen Menschenhandel ist, sondern auch, dass eine Nachfrage nach illegalen Arbeitskräften und der Ausbeutung von Einwanderern ohne Papiere besteht." Unterschiedliche Asylverfahren und Lebensbedingungen für Flüchtlinge in der Union heizen nach Überzeugung der Kommission die so genannten Sekundärströme an: Wanderungsbewegungen innerhalb der EU in das Land, das jeweils die günstigsten Bedingungen bietet. Die Kommission räumt ein, dass auch familiäre Bindungen oder die Landessprache ein Grund sein könnten, ein Exilland dem anderen vorzuziehen. Der Hauptfaktor aber sei die rechtliche und soziale Lage, die das jeweilige Land dem Flüchtling biete. So sei Deutschlands Anteil an der Einwanderung in die EU zwischen 1997 und 1999 von knapp 40 auf 25 Prozent gefallen, weil sich die dortigen Bedingungen verschlechtert hätten. Dagegen stieg die Einwanderung nach Belgien und Großbritannien im gleichen Zeitraum steil an. "Auseinander klaffende Asylpolitiken in den verschiedenen Mitgliedsstaaten müssen verschwinden, und es muss eine Anstrengung gemacht werden, die Lebensbedingungen anzugleichen, um negative Auswirkungen auf die Interessen der Mitgliedsländer zu vermeiden", fordert die Kommission. Um die Befürchtungen von Schily und Hardlinern in anderen EU-Staaten zu besänftigen, macht die Kommission klar, dass sie nicht vorhabe, EU-Institutionen zu schaffen, die das Asylverfahren künftig durchführen sollen. Die Anerkennungsprozedur bleibe Sache der Mitgliedsstaaten. Vor allem aber müssten die Mitgliedsstaaten endlich ehrlich ihren eigenen Interessen ins Auge sehen: Die Wirtschaftsimmigration, getarnt als politisches Exil, werde nicht beschränkt, weil in der Union in Wahrheit großer Bedarf an neuen Arbeitskräften bestehe. "Die Mitgliedsstaaten könnten das, was als Asylmissbrauch bezeichnet wird, viel besser bekämpfen, wenn sie eine große Auswahl an offenen und nachvollziehbaren Instrumenten der Einwanderungspolitik zur Verfügung hätten." Dieser Satz scheint fürs Stammbuch der deutschen Kinder-statt-Inder-Polemiker geschrieben. Die Kommission untermauert ihn mit Zahlen: Zwischen 1975 und 1995 stieg der Anteil derjenigen EU-Bürger, die älter als 65 Jahre sind, von 13 auf 15,4 Prozent. Für die Zukunft sagt Eurostat wachsende demographische Probleme voraus: 2025 wird fast jeder vierte EU-Bürger ein Rentner sein. Der Anteil der Menschen im erwerbsfähigen Alter wird von 225 Millionen 1995 auf 223 Millionen 2025 zurückgehen - trotz EU-Erweiterung. Feste Einwanderungsquoten will die Kommission nicht einführen. Die Mitgliedsstaaten sollen aber zukünftig in regelmäßigen Abständen "Zieldaten" veröffentlichen, die Rückschlüsse darauf zulassen, welche Qualifikationen auf den nationalen Arbeitsmärkten gebraucht werden. Die Verfeinerung der Messinstrumente, mit denen die EU ihre eigene demographische Entwicklung erkennen kann, ist für die Kommission eine der zentralen Aufgaben für die nahe Zukunft. Mittelfristig sieht sie einen Berg an Aufgaben, die bewältigt werden müssen, wenn eine harmonisierte Asyl- und Migrationspolitik gelingen soll. So muss die Zusammenarbeit zwischen den Asylbehörden in den Mitgliedsländern verbessert und die Rechtsprechung auf nationaler und europäischer Ebene analysiert und angepasst werden. Kanzler Schröder, der gestern in Brüssel nach der deutschen Position gefragt wurde, empfahl, "das Problem vom Kopf auf die Füße zu stellen". Erst müsse ein einstimmig im Rat verabschiedetes europäisches Asylrecht her, dann könne man über Mehrheitsentscheidungen reden. Allerdings sei vorstellbar, über den Schutz der Außengrenzen schon vorher mehrheitlich zu entscheiden. Otto Schily darf mit seinem Kanzler zufrieden sein.
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