Die Presse (A), 23.11.2000 Streit in der türkischen Regierungskoalition über Forderungen der EU Ankara droht der EU mit handfesten Konsequenzen, falls eine Zypern- und Ägäis-Lösung als Beitrittskriterium gehandelt wird. Von unserem Korrespondenten JAN KEETMAN ISTANBUL. Der türkische Ministerpräsident Bülent Ecevit bekräftigte gestern, Mittwoch, daß die Türkei die Forderung nach einer Zypern- und Ägäis-Lösung als Beitrittskriterium nicht akzeptieren werde und drohte mit "handfesten Konsequenzen". Die Reaktion der Türkei werde sich "nicht auf verbale Proteste beschränken", sagte Ecevit. Zugleich schloß er allerdings aus, daß die Türkei "von sich aus" ihre EU-Bewerbung zurückziehen könnte. Im Dreigespann der türkischen Koalition tobt bereits seit längerem ein heftiger Streit über die Haltung zu den von der EU-Kommission Anfang November vorgestellten Bedingungen für die Beitrittspartnerschaft der Türkei. Der Vorsitzende der rechtsradikalen MHP, Devlet Bahçeli, wirft der EU-Kommission vor, ihre Bedingungen zeigten einen Charakter, der an ihrer guten Absicht zweifeln ließe. Die Kommission fordert etwa gleiche kulturelle Rechte für alle Staatsbürger im Erziehungswesen. Zwar scheut sich Brüssel damit, das Kind beim Namen zu nennen, aber jedem ist klar, daß vor allem kurdischer Unterricht gemeint ist. Bahçeli mißfällt zudem die Behandlung der Zypernfrage durch die Kommission. Im EU-Bericht wurde in letzter Minute auf Drängen Griechenlands die Forderung eingefügt, die Türkei solle die Bemühungen von UN-Generalsekretär Kofi Annan für eine Lösung des Konfliktes auf der geteilten Insel unterstützen. Fast gleichzeitig mit der Bekanntgabe der Bedingungen seitens der Europäischen Union sickerten die Lösungsvorschläge Annans an die griechische Presse durch. Demnach soll die Insel in einer Föderation wiedervereinigt werden. Die Türkei müßte den größten Teil ihrer Truppen abziehen. Verbleiben sollten nur UN-Truppen und eine jeweils gleiche Zahl türkischer und griechischer Soldaten. Die nach dem türkischen Eingreifen vom Nordteil der Insel vertriebenen Griechen sollten zurückkehren können. Ablehnung auf Nordzypern Während die griechische Seite damit weitgehend zufrieden war, hat der Präsident der nur von Ankara anerkannten Türkischen Republik Nordzypern, Rauf Denktasch, diesen Plan scharf abgelehnt. Karen Fogg, die Vertreterin der EU in Ankara, meinte zu den Zypern-Forderungen der Union, die Türkei unterstütze ohnehin die Bemühungen Annans, es handele sich also um keine zusätzliche Forderung. Der türkische Außenminister Ismail Cem versichert auch, die Politik der Türkei werde sich nicht ändern, und ist sich mit seinem Parteikollegen Ecevit darin einig, daß die Lösung der Zypernfrage keine verpflichtende Bedingung für den Beitritt der Türkei zur EU ist. Viele Kommentatoren - und eben auch Bahçeli - sehen das anders: Sie meinen, daß die EU als Bedingung für den Beitritt zwischen den Zeilen verlangt, daß die Türkei von ihrer These zweier souveräner Staaten auf Zypern Abschied nimmt. Darin sieht Bahçeli einen Verstoß gegen die im Umfeld der Aufnahme der Türkei unter die EU-Kandidaten auf dem Gipfel in Helsinki gegebenen Versprechungen. Doch Bahçeli macht nicht nur gegen die EU-Forderungen mobil, sondern vor allem gegen den dritten Koalitionspartner, Mesut Yilmaz von der konservativen Mutterlandspartei ANAP. "Leider" gäbe es in der Türkei Leute, die die Frage mit den gleichen Augen sehen würden wie die EU-Kommission, die sogar die "Ausgekochtheit" hätten, die Argumente der Gegenseite zu ihrer Grundlage zu machen, meint Bahçeli. Yilmaz, obwohl nicht direkt angesprochen, entgegnete mit einem Vergleich: "Wir sind in unseren Beziehungen zur EU bis an den Rand des Schwimmbeckens gekommen. Nun gleichen wir Leuten, die anstatt ins Becken zu gehen, den Fuß ausstrecken und die Wassertemperatur prüfen."
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