Die Presse (A), 23.11.2000 "Europäische Union muß Fehler wie Null-Immigration vermeiden" Die EU-Kommission lanciert eine Debatte über die Zukunft der Einwanderung. Mitgliedsländer sollen "Bedarf" offenlegen. Von unserer Korrespondentin Doris Kraus BRÜSSEL. Die EU-Kommission stellte der Politik der "Null-Immigration" in den EU-Staaten ein schlechtes Zeugnis aus und lancierte gestern, Mittwoch, eine Debatte über die Zukunft der Immigration. Am Ende dieses Prozesses soll ein gemeinsamer Ansatz mit einer kontrollierten Einwanderung stehen, die dem Bedürfnis - etwa nach ausländischen Fachkräften - entspricht. Deutschlands Bundeskanzler Gerhard Schröder begrüßte den Vorstoß des zuständigen Kommissars Antonio Vitorino "ausdrücklich als Unterstützung unseres Arguments". Schröder war der erste EU-Politiker, der ein "Green Card"-System für Computerfachleute aus Drittstaaten zur Sprache brachte. Am 30. November werden sich die Innenminister der EU-Staaten bei einem Ratstreffen das erste Mal mit Vitorinos Ideen auseinandersetzen. Der Diskussionsprozeß ist für ein Jahr anberaumt und soll beim Brüsseler EU-Gipfel im Dezember 2001 abgeschlossen werden. Vitorino nimmt sich in seiner Beurteilung der bisherigen Einwanderungspolitik der EU-Staaten kein Blatt vor den Mund. "Europa muß Fehler der Vergangenheit vermeiden, wie die "Null-Immigration" und ihre Widersprüche: einerseits restriktive Gesetze, die den Strom heimlicher Immigration nicht stoppen können, und andererseits regelmäßige Regulierungskampagnen für illegale Einwanderer." Klar sei auch, daß kein EU-Staat die Einwanderung im Alleingang kontrollieren könne. Auf der Basis, daß die EU ihre humanistische Tradition hochhalten und die Rechte von Asylsuchenden und Flüchtlingen auch weiterhin garantieren müsse, sucht Vitorino nach geeigneteren Auswegen aus dem Dilemma. Dieses wird noch durch die demographischen Entwicklungen in der EU verschärft. Erstens sinkt die Bevölkerungszahl insgesamt und zweitens verschiebt sie sich zuungunsten der Beschäftigten. Der Anteil der über 65jährigen soll 2025 bereits 22 Prozent ausmachen, um sieben Prozent mehr als heute. Eine Gegenmaßnahme ist die gezielte Aufnahme von Einwanderern. Eine UNO-Studie etwa spricht davon, daß die EU bis 2050 nicht weniger als 1,6 Millionen Immigranten brauchen würde, um ihren derzeitigen Lebensstandard und Wohlfahrtsstaat zu garantieren. Daher sei es bei aller Schärfe im Kampf gegen mit der illegalen Einwanderung verbundenen Verbrechen erforderlich, daß legale Immigranten über kurz oder lang dieselben Rechte erhalten wie europäische Bürger. Die Kommission erwartet von den Mitgliedsstaaten eine Art "Einkaufsliste", auf der jedes Land festlegt, wie viele Einwanderer es braucht und welche Fähigkeiten diese haben sollten. Der Vorstoß der Kommission ist in den "Tampere Prozeß" eingebunden, benannt nach der Stadt in Finnland, in der sich die Staats- und Regierungschefs der EU im Oktober 1999 ambitionierte Ziele für eine gemeinsame Asyl- und Einwanderungspolitik bis 2004 setzten. Zur Zeit findet hier aber offensichtlich ein Rückzugsgefecht statt. Angesichts der steigenden illegalen Einwanderung wird der Ton in vielen EU-Staaten aggressiver. Das schlägt sich direkt in den derzeit im Rahmen der EU-Reform geführten Verhandlungen über die Abschaffung des Veto im Bereich der Asyl- und Einwanderungspolitik nieder. Österreich, Dänemark, Frankreich und Deutschland tun sich damit schwer.
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