Stuttgarter Zeitung, 23.11.2000 Der Fall Öcalan in Straßburg Nach Europa Die Türkei ist in der Zwickmühle. Jahrelang wurde PKK-Führer Abdullah Öcalan als Staatsfeind Nummer eins gejagt. Tausende türkische Soldaten haben im Kampf gegen die kurdische Arbeiterpartei ihr Leben gelassen. Ihre Angehörigen wollen Öcalan, der seit Monaten auf einer Insel vor Istanbul gefangen gehalten wird, hängen sehen. Dennoch zögern die Politiker, die Todesstrafe zu vollstrecken, denn viele Gründe sprechen dafür, Abdullah Öcalan am Leben zu lassen. Da ist etwa die europäische Komponente: Würde Öcalan gehängt, müsste Ankara die Hoffnung auf einen Betritt zur Europäischen Union auf lange Zeit begraben. Würde Öcalan aber verschont und in der Folge die Todesstrafe abgeschafft, wäre das ein starkes Signal in Richtung Brüssel. Auch innenpolitisch nützt ein lebender Öcalan mehr. Der Kurdenführer dient Ankara als Faustpfand. Denn solange er lebt, wird die PKK stillhalten. Mit seiner Hinrichtung aber würde ein Märtyrer geschaffen, die PKK würde das Land wieder mit einer Terrorwelle überziehen. In dieser Situation kommt dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte eine Schlüsselrolle zu. Denn dort wird in diesen Tagen über eine Klage Öcalans gegen die Türkei verhandelt. Falls die Richter einen Verstoß gegen die Menschenrechte feststellen, könnte das Todesurteil in lebenslange Haft umgewandelt werden. In Ankara hoffen nun gemäßigte Politiker, dass das Gericht in Straßburg ihnen die juristische Begründung liefert, Öcalan nicht hinzurichten. Die türkischen Politiker könnten ihrem Volk erklären: Wir würden ihn ja hängen, dürfen aber nicht. So könnten die Straßburger Richter der Türkei den Weg nach Europa weisen - ein Weg, der aber in jedem Falle noch sehr lang ist. Von Knut Krohn |