taz Berlin 25.11.2000

Davut K. zur Flucht getrieben

Lebensgefährlich verletzt: 17-jähriger traumatisierter Kurde sprang aus dem Fenster einer psychotherapeutischen Praxis - weil sich Beamte mit gezogener Waffe Zutritt verschafft hatten

von BARBARA BOLLWAHN DE PAEZ CASANOVA

Ein 17-jähriger Kurde aus der Türkei ist gestern Vormittag in den Räumen der psychotherapeutischen Beratungsstelle für politisch Verfolgte "Xenion" aus dem Fenster gesprungen und hat sich dabei lebensgefährlich verletzt. Der Grund: Mehrere Polizeibeamte waren mit gezogener Waffe in die Praxisräume in Charlottenburg eingedrungen. Kurz zuvor war Davut K., der im April dieses Jahres aus der Türkei in die Bundesrepublik eingereist und gestern auf dem Weg zur psychotherapeutischen Behandlung war, bei einer BVG-Kontrolle ohne Fahrschein angetroffen worden. Gegen den ausdrücklichen Willen des Therapeuten verschafften sich die Polizisten Zugang zu der Beratungsstelle. Aus Angst vor einer Abschiebung stürzte sich der Mann, der im vergangenen Jahr in der Türkei zu einer 15-jährigen Haftstrafe verurteilt wurde, aus dem dritten Stock. Seitdem liegt er unter Polizeibewachung im Steglitzer Universitätsklinikum.

Ein Polizeisprecher rechtfertigte gestern das Eindringen in die Praxisräume mit dem Vorliegen eines Straftatbestandes wegen Schwarzfahrens. Auch für das Ziehen der Dienstwaffen hatte der Sprecher eine simple Erklärung: "Zur Eigensicherung".

Der behandelnde Therapeut, Dietrich F. Koch, zeigte sich empört darüber, dass die Beamten sich gegen seinen entschiedenen Willen Zutritt zur Praxis verschafften. "So etwas habe ich noch nicht erlebt." Nach seinen Angaben haben ihm die Beamten gesagt, dass ein Fahndungsbefehl gegen Davut K. vorliege. Koch: "Selbst bei Fluchtgefahr hätten sie vor der Tür warten können." Nachdem er zwei Beamte abgewiesen hatte, seien "fünf bis sechs Polizisten" erschienen, die ihn zur Seite drängten und aufforderten, zu schweigen. Dann hätten zwei Polizisten ihre Waffen gezogen und die Praxisräume durchsucht. Sowohl Kochs Angebot, sie zu begleiten, als auch die Bitte, die Waffen wegzustecken, seien ignoriert worden. Während die Beamten weiter nach Davut K. suchten, hörte der Therapeut ein unbekanntes Geräusch.

Kurze Zeit später hatte er die Erklärung: Als eine Beamtin durch ein Fenster auf den Hof schaute, sah sie den Gesuchten auf dem Hof liegen. Die Beamtin, so Koch, habe dann zu ihm gesagt: "Das haben Sie nun davon." Der Therapeut, dem ein Strafverfahren angedroht wurde, erwägt rechtliche Schritte gegen die Polizisten. Denn: "Ich fühle mich als Therapeut verpflichtet, meine Praxisräume und die Patienten zu schützen."

Nach Angaben des Anwaltes von Davut K., Dündar Kelloglu, kam sein Mandant vor etwa drei Wochen auf Vermittlung der Ausländerbeauftragten in Bitterfeld zu der psychotherapeutischen Beratungsstelle "Xenion" nach Berlin. Kelloglu hat mehrere Wochen lang die Gründe für das Ausreisen seines Mandanten aus der Türkei recherchiert. Das Ergebnis: "Die Gefahr einer Festnahme bei Rückkehr besteht."

Davut K. wurde, so der Anwalt, im Juli 1999 in der Türkei mit der Begründung verurteilt, er sei Mitglied einer terroristischen Organisation (der PKK). "Das bestreitet mein Mandant aber", so der Anwalt. Weil sich Davut K. im Rahmen des Reuegesetzes bereit erklärt habe, eigene Leute zu denunzieren, sei die Vollstreckung der Haftstrafe ausgesetzt worden. Die Freilassung habe Davut K. zur Einreise nach Deutschland genutzt. "Er wollte nicht denunzieren und hatte Angst, dass er wieder ins Gefängnis kommt und gefoltert wird." Doch das Bundesamt für die Anerkennung ausländischer Flüchtlinge habe den Asylantrag "ohne Überprüfung als offensichtlich unbegründet abgelehnt". Nachdem auch das Verwaltungsgericht Magdeburg mehrere Eilanträge, mit denen der Anwalt die Abschiebung stoppen wollte, abgelehnt hatte, wurde Davut K. zur Ausreise verpflichtet. "Deshalb hat mein Mandant den Polizeieinsatz als Abschiebung verstanden." Heute will der Anwalt erneut einen Eilantrag stellen.