RHEINPFALZ ONLINE, 25.11.2000 Die Legende vom Asylmissbrauch Das Schlagwort ist im Nürnberger Bundesamt für die Anerkennung ausländischer Flüchtlinge tabu Das Schlagwort "Asylmissbrauch" ist im Nürnberger Bundesamt für die Anerkennung ausländischer Flüchtlinge tabu. "Dieser Begriff wird hier nicht mehr verwendet", sagt Albert Schmid, Präsident der dem Bundesinnenministerium unterstellten Behörde. Besucher finden eher selten den Weg zum Bundesamt für die Anerkennung ausländischer Flüchtlinge. Und wenn, dann interessieren sie sich meist weniger für die Arbeit der Behörde mit dem umständlichen Namen als vielmehr für den Kasernenbau, in der sie untergebracht ist. Besonders einladend wirkt der nationalsozialistische Monumentalbau nicht. Seine Funktion, die allen 850 Mitarbeitern ein gehöriges Maß an Fingerspitzengefühl abverlangt, steht in krassem Gegensatz zu seinem historischen Ursprung. Doch der Ungeist der NS-Zeit ist längst gewichen. An der Spitze des Bundesamtes steht mit dem Sozialdemokraten Albert Schmid seit Juli ein Präsident, der die Grundrechte hoch hält. Innenminister Otto Schilys Mann in Asyl- und Flüchtlingsfragen reagiert allergisch, wenn es jemand wagt, das Wort "Asylmissbrauch" in den Mund zu nehmen. "Dieser Begriff wird hier nicht mehr verwendet", sagt Schmid: "Es gibt Menschen, die nach Deutschland kommen, weil sie politisch verfolgt werden. Und es gibt Menschen, die aus anderen Gründen nach Deutschland kommen." Im Asylverfahren würden beide Gruppen voneinander geschieden. Vom Missbrauch eines Grundrechts könne deshalb nicht die Rede sein. Vielmehr stelle sich die Frage, ob es neben dem Asylrecht nicht weitere Zuwanderungsmöglichkeiten geben sollte. Eine jährliche Obergrenze für Menschen, die - egal aus welchen Gründen - nach Deutschland kommen möchten, hält Schmid für falsch, für geradezu abwegig die Vorstellung, einen Flüchtling abweisen zu müssen, weil die Quote bereits von Computerspezialisten erfüllt ist. "Das Asylrecht ist kein Steuerungsinstrument für Zuwanderung. Wer das Asylrecht einschränken will, will aber Spielräume für Zuwanderung schaffen", sagt Schmid. Er räumt aber ein, dass sich nach einer Umwandlung des Asylrechts in eine so genannte institutionelle Garantie "faktisch nichts ändern" würde. Da sich die große Mehrheit der Asylsuchenden auch auf die Genfer Flüchtlingskonvention (GFK) und die Europäische Menschenrechtskonvention (EMRK) berufen kann - völkerrechtliche Vereinbarungen, an die die Bundesrepublik gebunden ist - wäre den Menschen zwar die Möglichkeit genommen, einen Anspruch auf Asyl einzuklagen. Gegen eine Abschiebung - etwa in Bürgerkriegsgebiete - könnten sie sich aber sehr wohl vor Gericht zur Wehr setzen. Zurück zum Schlagwort vom angeblichen Asylmissbrauch, das Schmid auch mit Zahlen widerlegen kann. Zwar sei es richtig, dass sich im vergangenen Jahr nur etwas mehr als drei Prozent aller Asylbewerber auf den Asylartikel 16a des Grundgesetzes berufen konnten. In den ersten zehn Monaten dieses Jahres ist die Anerkennungsquote gar auf 2,89 Prozent abgerutscht. Addiert man hierzu aber diejenigen, die das so genannte "kleine Asylrecht" der GFK in Anspruch beziehungsweise sich auf die EMRK berufen können, steigt die Quote auf etwa zwölf Prozent. Gerichtsverfahren erhöhen diese auf etwa 18 Prozent. Und werden schließlich diejenigen hinzugezählt, die nach Ablehnung ihres Asylantrags in der Bundesrepublik geduldet werden, weil die Lage in ihrem Heimatland zu gefährlich ist, kann etwa jeder Dritte, der in Deutschland Schutz sucht, im Land bleiben. Verwundert ist Schmid auch, warum das Asylrecht plötzlich wieder in Frage gestellt wird - sind doch die Bewerberzahlen seit der Verschärfung des Grundrechts 1993 kontinuierlich gesunken. Im laufenden Jahr haben bis einschließlich Oktober 64.743 Menschen einen Asylantrag gestellt. 80.000 werden es, so schätzt Schmid, bis zum Jahresende gewesen sein. "2000 war wohl ein Normaljahr. In der Größenordnung von jährlich 80.000 wird sich die Antragszahl wohl einpendeln", sagt Schmid - sofern keine Krise von der Dimension des Kosovo-Krieges hinzukomme. Allerdings mag er nicht ausschließen, dass die Bewerberzahlen nach der Verabschiedung eines Einwanderungsgesetzes abermals zurückgehen würden. Denn nach ersten Erhebungen des Bundesamtes kommen etwa aus dem Irak oder aus Syrien in erster Linie Akademiker - ein Anzeichen, dass bislang auch viele gebildete Menschen in das Asylverfahren gezwungen wurden, weil es faktisch keine andere Möglichkeit gibt nach Deutschland einzuwandern. "Je nach Herkunftsland gibt es große Unterschiede in der Sozialstruktur der Bewerber. Deshalb muss die Migrationsforschung dringend intensiviert werden. Und deshalb brauchen wir in Deutschland eine offene Einwanderungsdebatte", sagt Schmidt. Von unserem Redakteur: Erhard Stern |