junge Welt, 27.11.2000

Der Tod im Sebnitzer Spaßbad ...

... und nachfolgende »Unfälle«: Eine Chronik

13. Juni 1997. Der warme Frühlingstag lockt viele Sebnitzer ins Dr.-Pätzold-Freibad der Kleinstadt. Unter den Badelustigen auch die zwöfjährige Diana und ihr sechsjähriger Bruder Joseph, die beiden Kinder von Saad Abdulla, einem gebürtigen Iraker mit deutscher Staatsbürgerschaft, und seiner Frau Renate Kantelberg, die 1995 aus Hessen nach Sebnitz gekommen waren und hier eine Apotheke betreiben. Auf ihrer Eintrittskarte ist die Uhrzeit exakt ausgewiesen: 14:23:58 Uhr. Diana trifft einen Schulfreund und ist für Minuten abgelenkt. ... Als die zwöfjährige ihren Bruder wieder zu Gesicht bekommt, liegt er leblos am Beckenrand. Zusammen mit einer jungen Frau unternimmt sie erste Wiederbelebungsversuche. Erfolglos. Späteren Zeugenaussagen zufolge ist Joseph von einer Gruppe Jugendlicher als Ausländerkind beschimpft, geschlagen, mit einem Elektroschockgerät betäubt, ins Schwimmbecken geworfen und längere Zeit untergetaucht worden.

14. Juni 1997. Die Öffentlichkeit wird über einen bedauerlichen Badeunfall mit tödlichem Ausgang informiert. Die ermittelnden Polizeibeamten verzichten auch in den Folgetagen darauf, gezielt nach Zeugen zu suchen bzw. zu befragen. Von später Befragten werden keine Personalien aufgenommen; auftretenden Widersprüchen in den Aussagen wird nicht nachgegangen. Plakate am Schwimmbad, die darauf hinweisen, daß hier am hellichten Tag ein Mord verübt worden sei, werden abgerissen. Auf dem Totenschein wird später als Todesursache vermerkt: »Ertrinken beim Spiel im Wasser.« Renate Kaltenberg beginnt auf eigene Faust, Augenzeugen des Geschehens ausfindig zu machen.

26. August 1997. In einem Schreiben informiert der sächsische SPD-Landtagsabgeordnete Joachim Richter Innenminister Klaus Hardraht (CDU): »... Die Mutter hat den Verdacht, daß ihr Sohn vorsätzlich getötet wurde. Sie vermißt bei den ermittelnden Dienststellen den Willen zur rückhaltlosen Aufklärung der Umstände ...«

7. Mai 1998. Die mit dem Fall des »Irakers Joseph Abdulla« betraute Staatsanwaltschaft Pirna schließt die Akten. 8. Juni 1998. Die inzwischen von der Familie Kantelberg- Abdulla eingeschaltete Münchner Anwaltskanzlei von Rolf Bossi legt Beschwerde gegen die Einstellung des Verfahrens ein. Auf der Grundlage der inzwischen erfolgten Zeugenbefragungen durch Frau Kantelberg nennen die Bossi- Anwälte auch die Namen dreier Tatverdächtiger. Die Dresdner Generalstaatsanwaltschaft nimmt ihre Ermittler in Schutz: Sie schließt eine Beteiligung Dritter an dem »Unfall« mit Sicherheit aus. Die Ermittlungsmöglichkeiten seine ausgeschöpft worden, und zudem seien die genannten Verdächtigen »zum Tatzeitpunkt strafunmündig« gewesen ...

11. November 1999. Parallel zu ihren privaten Zeugenbefragungen beantragt die Familie die Exhumierung der Leiche ihres Sohnes, der nicht in Sebnitz, sondern in Kempen am Niederrhein, im Grab des Großvaters, beigesetzt worden war.

17. Januar 2000. Nach einer von Josephs Eltern auf eigene Kosten in Auftrag gegebenen zweiten Obduktion durch den Gießener Rechtsmediziner Günter Weiler bestätigt dieser in seinem Gutachten, »daß eine Wiederaufnahme des ... Verfahrens zur weiteren Ausermittlung des Falls angezeigt scheint«.

August 2000. Die Eltern übergeben die von ihnen gesammelten Zeugenaussagen - insgesamt 30 - der Dresdner Staatsanwaltschaft. Das von der Apothekerfamilie ebenfalls hinzugezogene Kriminologische Forschungsinstitut Hannover kommt zu dem Schluß: Es bestehe in jedem Fall Anlaß, »die Ermittlungen wiederaufzunehmen«; es bestehe der »Anfangsverdacht einer vorsätzlich rechtswidrigen Straftat«.

September 2000. Unter dem Aktenzeichen 414 Js 53329/00 nimmt die Dresdner Staatsanwaltschaft neue Ermittlungen wegen Mordverdachts auf. Ermittelt wird nun nicht mehr gegen Unbekannt, sondern gegen laut Zeugenaussagen drei Tatverdächtige.

22./23. November 2000. Sandro R., Mike H. und Ute Sch. werden in Untersuchungshaft genommen - die Bild-Zeitung geht mit der schlagzeilenträchtigen Geschichte an die Öffentlichkeit: »Neonazis ertränken Kind - Keiner half, und eine ganze Stadt hat es totgeschwiegen«.

(jW)