Salzburger Nachrichten (A), 29.11.2000 Kurdistans Wunden bluten weiter Europa beschäftigt sich mit dem Schicksal Abdullah Öcalans. In der türkischen Kurdenregion hält die Repression derweil unvermindert an. BIRGIT CERHA NIKOSIA (SN). Vor kurzem öffnete der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte in Straßburg die "Akte Öcalan". Die Anwälte des im Juni 1999 zum Tode verurteilten Führers der kurdischen Guerillaorganisation PKK vertreten die Ansicht, dass Ankara mit der Entführung Öcalans in die Türkei und der anschließenden Verurteilung internationales Recht verletzt habe. Sie fordern die Freilassung des gesundheitlich angeschlagenen einzigen Gefangenen auf der Festungsinsel Imrali im Marmara-Meer. Die rund zwölf Millionen Kurden des Landes warten bis heute vergeblich auf wenigstens kleine Zeichen der Versöhnung des Staates. Die EU lässt die Kurden im Stich Seit seiner Gefangennahme drängte Öcalan seine Guerillas, die Waffen niederzulegen. Das Ziel eines unabhängigen Staates, ja selbst der Autonomie gab die PKK längst auf. Radio- und Fernsehsendungen sowie Unterricht in kurdischer Sprache zählen zu den wenigen verbliebenen Hauptforderungen. Die Europäische Kommission erwähnte in ihrem jüngst verabschiedeten "Partnerschafts-Dokument" weder den Namen "Kurden", noch das Wort "Minderheit". Ankara frohlockt. Humanisten, überzeugte Demokraten sind schockiert und die Kurden fühlen sich wieder als Opfer internationaler Diplomatie, als Volk ohne Freunde. Denn in Kurdistan hat sich nicht viel geändert, seit sich Öcalan vor seinen Richtern beugte und nur noch von Frieden und Versöhnung spricht. Diese Worte gelten in der südostanatolischen Region wenig. Zwar gibt es laut Sondergouverneur Gokhan Aydiner um 80 Prozent weniger bewaffnete Zusammenstöße, doch ansonsten bleibt für die gequälten Bewohner alles beim alten. "Wer hier von Frieden spricht, lügt", sagt ein kurdischer Intellektueller aus Diyarbakir. Es war im Mai, als 60 Bewohner des Dorfes Akcapinar in ihrem Elendsquartier in Diyarbakir ihre Haseligkeiten zusammenrafften, sich in vier klapprige Lkw zwängten und in die Berge fuhren. Dort, wo 1993 Sicherheitskräfte ihr Dorf niedergebrannt hatten, schlugen sie Zelte auf. Sie bebauten ihre brachliegenden Felder und im Herbst fuhren sie reiche Ernte ein. Mit dem auf eigenem Boden verdienten Geld begannen sie, ihre alten Häuser wiederaufzubauen. Doch eines Nachts im Oktober rückten Sicherheitskräfte an, trieben die Menschen zusammen, zündeten ihre Habseligkeiten, ihre Zelte und die neuaufgebauten Häuser an. Dabei hatten sie lediglich der Regierung vertraut, als diese zu Jahresbeginn ein Rückkehrverbot für die aus den entlegenen Gebirgsregionen vertriebenen Menschen aufhob. Im vergangenen Jahrzehnt wurden durch die "Politik der verbrannten Erde" mehr als 3600 kurdische Dörfer von Sicherheitskräften zerstört. An die drei Millionen Kurden verloren auf diese Weise ihr gesamtes Hab und Gut. Dem türkischen Staat böte sich nun, da die PKK militärisch besiegt sei, "die einmalige Chance zur Versöhnung" mit diesem Volk, dessen Misshandlung die Stabilität der Türkei untergräbt und den Eintritt nach Europa entscheidend erschwert", stellt "Human Rights Watch" fest. Doch alles deutet heute darauf hin, dass Ankara diese Chance nicht ergreift. Die Militärs wollen "kämpfen, bis alle Rebellen aufgegeben haben und neutralisiert sind". Die massive Präsenz der Sicherheitskräfte in der Krisenregion wurde nicht verringert: 220.000 Mann stehen dort zum Einsatz bereit. Der Ausnahmezustand bleibt in Kraft und gestattet den Regionalbehörden brutale Unterdrückung der Bürgerrechte. Lehrer, Gewerkschaftsführer, Politiker werden immer wieder verhaftet. Menschenrechtsgruppen, Studenten-, Frauenorganisationen, Gewerkschaften werden unterdrückt, Kulturzentren in ihren Aktivitäten behindert. Auch die vom Staat im Kampf gegen die PKK eingesetzten "Dorfwächter" - eine kurdische Miliz von rund 62.000 Mann - bleibt im Einsatz. Die "Dorfwächter" sind für einen großen Teil der grausigsten Menschenrechtsverletzungen in Kurdistan verantwortlich. Sie nützen ihre Macht weiterhin willkürlich aus. "Wir brauchen vor allem eine Revolution in der Mentalität", drängt der Chef der türkischen Menschenrechtsassoziation, Husun Ondul. Die Türken sollten das kurdische Volk nicht fürchten. "Sie sind der Zement der Türkei." Er, wie so manche andere aufgeklärte Türken drängen auf Anerkennung der kulturellen Rechte der Kurden. Als Zeichen des "guten Willens" gegenüber Europa, erwägt die Regierung die Aufhebung des Radio- und Fernsehverbotes, doch nur, um Sendungen in Kurdisch unter staatlicher Kontrolle auszustrahlen. In türkischen Verwaltungskreisen Kurdistans lässt sich von der geforderten Mentalitätsänderung nichts erkennen. "Die kurdische Sprache ist Schlamm", doziert Aydiner, "eine nichtwissenschaftliche Mischung anderer Zungen. Die Kurden sollten glücklich sein, dass sie Türkisch verwenden dürfen." Gefährlicher Nährboden für künftigen Widerstand Eben wurde der Führer der prokurdischen "Partei der Volksdemokratie" (HADEP), Ahmet Turan Demir, wegen "separatistischer Propaganda" zu zehn Monaten Gefängnis verurteilt. Immer noch sitzen seit 1994 fünf frei gewählte kurdische Parlamentsabgeordnete wegen angeblicher Verbindung zur PKK im Gefängnis. Demgegenüber will der Staat - verbal - die Lösung des Kurdenproblems auf ökonomischem Weg suchen. Die Lage der Menschen ist verzweifelt. In manchen Gebieten übersteigt die Arbeitslosigkeit 50, die Analphabetenrate 30 Prozent. Nur neun Prozent der kurdischen Kinder in Südostanatolien schlie-ßen die Mittelschule ab. Die Kindersterblichkeit stieg mancherorts laut UNICEF auf 83 pro tausend Lebengeburten. In der Region Erzerum leben 45 Prozent der Menschen in bitterer Armut. Die Regierung bietet potenziellen Investoren Steuerferien, kostengünstige Darlehen an und verschenkt Land. Doch solche Anreize verfehlten bisher ihre Wirkung. Fast alle Investitionen, die der Staat in der Region tätigte, beschränken sich auf den Militärbereich. Diese verzweifelte Situation schafft Nährboden für künftigen Widerstand. Ein türkischer Intellektueller warnt: "Erst wenn die Kurden ihre ethnischen Rechte erhalten, kann die Region wirklich Frieden finden." Nur wenige Türken sehen das ein. |