Neue Zürcher Zeitung (CH), 29.11.2000 Schröder vor «Nizza» kompromissbereit Beharren Berlins auf neuer Stimmengewichtung Ko. Berlin, 28. November Wenige Tage vor dem Europäischen Rat in Nizza hat Bundeskanzler Schröder, wie es in Deutschland stets Brauch ist, in einer Regierungserklärung vor dem Bundestag noch einmal die Ziele und Absichten erläutert, welche die Berliner Regierung mit dem Gipfeltreffen der EU-Staats- und Regierungschefs verbindet. Der deutsche Regierungschef sprach sich darin abermals für die europäische Integration und die Erweiterung der EU um die Staaten Ost- und Südosteuropas aus. Er vermied es, die Fortschritte in den einzelnen Beitrittsländern zu bewerten, weil dies den Reformeifer dämpfen könnte. Vor allem aber rief der Kanzler seine europäischen Partner zur Kompromissbereitschaft auf. Der französischen Ratspräsidentschaft, die in der letzten Zeit in die Kritik geraten war und sich ihrerseits gerade von Deutschland nicht hinreichend unterstützt fühlte, bestätigte Schröder ausdrücklich, die Reformbemühungen seien bei ihr in guten Händen. Erunterstrich jedoch auch, welches Gewicht im Rahmen der Erweiterung den zurzeit immer noch umstrittenen institutionellen Reformen zukommt. Esdürfe keine Erweiterung auf Kosten der Handlungsfähigkeit der Europäischen Union geben. Unüberhörbar war bei Schröder der Ruf der deutschen Regierung nach einer Neubewertung der Stimmen. Sowohl gegenüber einer Neugewichtung der Stimmen, bei der Deutschland alsgrösster EU-Staat mehr Stimmen als bisher erhielte, als auch gegenüber der «doppelten Mehrheit» sei Berlin aufgeschlossen, unterstrich derKanzler. Die «doppelte Mehrheit» würde verhindern, dass die grossen EU-Staaten von den kleineren überstimmt werden könnten, indem nebenden Stimmen der Einzelstaaten auch die Bevölkerungszahl festgelegt würde. Noch liesse sich allerdings nicht klar sagen, für welches Verfahren sich die Konferenz von Nizza entscheiden werde. Der Vorsitzende der CDU/CSU-Fraktion, Merz, versicherte die Regierung gerade für die «doppelte Mehrheit» seiner Unterstützung, bedauerte indes, dass dieses Ziel aufgegeben worden sei. Ohne dass dies in der Debatte vertieft worden wäre, scheint der Übergang zu Abstimmungen mit «doppelter Mehrheit» wegen des Widerstands kleiner EU-Länder zurzeit die am wenigstens realistische Lösung zu sein. Berlin kann sich eine EU-Erweiterung jedoch ohne eine Neubewertung der deutschen Stimmen nicht vorstellen. Zu den unverändert strittigen Plänen in der EU zählte Schröder vor dem Bundestag die Einführung der qualifizierten Mehrheit bei der Gesetzgebung auf europäischer Ebene. Noch habe man nicht die nötige Unterstützung dafür gefunden, auch in der Innen-, Justiz-, Aussen- und Sicherheitspolitik mit einer Mehrheit abzustimmen statt es beim Einstimmigkeitsprinzip zu belassen. Deutschland will auf die Veto-Möglichkeit zumindest beim Asylrecht so lange nicht verzichten, bis eine einheitliche europäische Lösung für den Umgang mit Asylbewerbern gefunden ist. Erneut setzte sich Schröder dafür ein, dass einzelne EU-Staaten bei der Integration voranschreiten dürfen. Die Gruppe dieser Länder solle zwarwie beim Schengener Abkommen und der Währungsunion grundsätzlich allen EU-Mitgliedernoffen stehen, fügte der Kanzler hinzu, nach Möglichkeit aber auf acht Staaten begrenzt werden. Abermals brachte der Kanzler seinen schon in Biarritz vorgetragenen Vorschlag zur Sprache, nicht mehr jedem Land einen Platz in der Europäischen Kommission zu garantieren, sondern zu einem Rotationsverfahren überzugehen. Die Regierung Schröder kann bei ihrem Gang nach Nizza weitgehend mit der Unterstützung der Opposition im Bundestag rechnen. Merz fiel nur mit der Bemerkung auf, er vermisse in Schröders betont sachlicher Darstellung das leidenschaftliche Engagement und das Werben um die notwendige Zustimmung bei der Bevölkerung. Dies wiederum veranlasste Aussenminister Fischer zum Gegenangriff, in dem er dem Oppositionspolitiker vorwarf, die deutsche Position vor dem Gipfel von Nizza geschwächt zu haben. |