taz Nr. 6310 vom 30.11.2000, Seite 2 Streik mit Todesgefahr Der Hungerstreik in türkischen Gefängnissen tritt in die Phase des "Todesfastens" ISTANBUL taz "Jeden Tag", so ein Vertreter der Ärztekammer in Izmir, "kann nun einer der Hungerstreikenden sterben." 100 von mehr als insgesamt 800 Gefangenen in der Türkei verweigern seit nunmehr 42 Tagen jede Nahrung. Damit ist eine Phase erreicht, die bei den so genannten Todesfastenden irreversible Schäden hinterlassen wird. Eine ärztliche Versorgung lehnen sie vehement ab. Dagegen kündigte Justizminister Hikmet Sami Türk vor zwei Tagen an, dass der Staat notfalls eine Zwangsernährung anordnen wird. "Wir werden niemandem erlauben zu sterben." Trotz der akuten Todesgefahr deutet sich kein Kompromiss zwischen den Gefangenen und dem Justizministerium an. Die Hauptforderung der Streikenden ist, nicht in sogenannte F-Typ-Gefängnisse verlegt zu werden, die zurzeit gebaut werden. Der Hintergrund ist eine umfassende Knastreform. Die heutigen Gefängnisse, in denen bis zu 100 Personen in Großraumzellen eingesperrt sind, sollen durch Gefängnisse mit Einzelzellen oder Zellen für maximal 4 bis 6 Personen ersetzt werden. Die Gefangenen, die alle Mitglieder linker Organisationen sind, wehren sich gegen die geplante "Isolationshaft" in den neuen Knästen und befürchten, dort der Willkür des Wachpersonals ausgeliefert zu sein. "F-Typ-Gefängnisse", sagt der Vater eines der Streikenden, "bedeuten, der Folter Tür und Tor zu öffnen." Eine Gruppe von Intellektuellen, unter ihnen Orhan Pamuk, Zülfü Livanelli und Oral Calislar, versucht zurzeit gemeinsam mit Vertretern von Menschenrechtsorganisationen, zwischen Justizministerium und Streikenden zu vermitteln. Kritiker des Streiks beklagen, dass die Entscheidung zum Todesfasten von den Spitzen der Organisationen gefällt wurde und sich kein Gefangener entziehen kann, ohne möglicherweise als Verräter gebrandmarkt zu werden, was in den Großraumzellen lebensgefährlich wäre. Dem Staat geht es mit der Einführung dieser Gefängnisse gerade darum, den Einfluss der Organisationen in den Knästen zu brechen. JÜRGEN GOTTSCHLICH |