Financial Times Deutschland, 1.12.2000 Berlin blockiert EU-Einwanderungspolitik Von Birgit Jennen, Brüssel, Tina Stadlmayer und Karin Nink, Berlin Die 24-jährige Polin Magda Cybula wirkt wie eine schüchterne Abiturientin. Tatsächlich aber ist sie eine hoch qualifizierte Software-Entwicklerin - eine von jenen, die von Computerfirmen weltweit gesucht werden. Ihr Kollege, der 29-jährige Jugoslawe Predrag Radojkovic weiß, dass er ein gefragter Mann ist: "Ich gehe dorthin, wo man mir den besten Job anbietet - ich bin gut, ich kann überall arbeiten." Beide Software-Spezialisten sind vor wenigen Monaten mit dem neuen Greencard-Verfahren nach Deutschland gekommen. Der Jugoslawe und die Polin erleben zurzeit am eigenen Leib, worüber die Regierungschefs der EU-Länder ab dem 6. Dezember reden wollen: Die Notwendigkeit von Zuwanderung und die Harmonisierung der Einwanderungs- und Asylgesetze. EU-Justizkommissar Antonio Vitorino hat vergangene Woche von den europäischen Regierungen "ein klares Bekenntnis" zu mehr Einwanderung und zu multikulturellen Gesellschaften verlangt. Genau das wollte Otto Schily, als Innenminister Vitorinos Gegenpart in der Bundesregierung, bisher aber nicht abgeben. Auf die Frage, ob die 10,5 Millionen Menschen - nach Abzug der Rückwanderung blieben 3,2 Millionen -, die zwischen 1985 und 1999 nach Deutschland kamen, zu viel waren, sagte er im Interview mit der FTD: "Wir sind bisweilen an die quantitativen Grenzen einer Zuwanderung gegangen, die ungesteuert verlaufen ist." Unterschiedliche Positionen Ziel Vitorinos ist es, in seiner Amtszeit maßgebliche Fortschritte hin zu einer europäischen Asyl- und Immigrationspolitik zu machen. Seine Pläne reichen von der Angleichung der Asylverfahrens in den einzelnen EU-Ländern, über eine gemeinsame Integrationspolitik, bis zu Regeln für eine EU-weite wirtschaftliche Zuwanderung. Bei Schröder und Schily stößt dieser Aktionsdrang auf große Skepsis, etliche Vorschläge Vitorinos lehnen sie ab. Doch der Kommissar reagiert auf die deutschen Einwände gelassen. Er verweist auf die Vereinbarung der Staats- und Regierungschefs, die in Amsterdam und Tampere die Schaffung eines gemeinsamen rechtlichen Raums der Asyl- und Immigrationspolitik beschlossen hatten. Laut Vertrag von Amsterdam, der im Mai 1999 in Kraft trat, wurde die Visa-, Asyl- und Einwanderungspolitik in den Artikeln 61ff in die Zuständigkeit der EU-Gemeinschaft übertragen. Beim Gipfel im finnischen Tampere im Oktober 1999 hatten die EU Länder dann den Beginn einer "Gemeinsamen Asyl- und Migrationspolitik der EU" proklamiert. Bis zum Jahr 2004 soll es einheitliche Verfahren und Mindestnormen in der EU geben. "Wir brauchen in Europa eine einheitliche Asylpolitik in dem Sinne, dass man materielle Asylgründe und die dazu gehörigen Verfahren einander annähert", hatte auch Bundeskanzler Gerhard Schröder in der Abschlusspressekonferenz der Sondertagung des EU-Rates am 16. Oktober 1999 erklärt. Vitorino hat diese Worte des Bundeskanzlers offensichtlich noch im Ohr. Denn an der grundsätzlichen Unterstützung von deutscher Seite für seine Politik zweifeln er und seine Beamten nicht. "Deutschland unterstützt vollständig die Vereinbarung von Amsterdam und Tampere", sagt Vitorinos Experte für Immigrationsfragen, Joaquim Nunes de Almeida. Aber: "Die Schwierigkeiten liegen im Detail." Für Greencardler, Studenten und andere Zuwanderer mit einer beschränkten Aufenthaltsgenehmigung, brächte vor allem die von Vitorino vorangetriebene EU-Richtlinie zur Familienzusammenführung Vorteile. Danach sollen nachziehende Ehegatten sofort arbeiten dürfen. Deutschlands Anteil an Einwanderung fällt Bisher dauert es in Deutschland ein bis vier Jahre, bis Ehegatten von Zuwanderern aus Nicht-EU-Ländern mit befristeter Aufenthaltserlaubnis, arbeiten dürfen. Asylbewerber, die nach dem Mai 1997 eingereist sind, dürfen in Deutschland generell nicht arbeiten. Die Bundesregierung will dieses Verbot demnächst durch eine zwölfmonatige Wartefrist ersetzen. Die Zahl der Asylbewerber ist in Deutschland seit der Verschärfung der Asylgesetze im Jahr 1993 deutlich zurückgegangen: Damals waren es 320.000, 1999 nur noch 95.000 im Jahr. Deutschland ist seit der Veränderung des Rechts längst nicht mehr Asylland Nummer eins in Europa, sondern rangiert auf Platz zehn der Liste europäischer Schutzländer. Die EU-Kommission stellte vergangene Woche fest, dass auch Deutschlands Anteil an der Einwanderung in die EU zwischen 1997 und 1999 von knapp 40 auf 25 Prozent gefallen ist. Selbst die Parlamentarische Staatssekretärin im Innenministerium, Cornelie Sonntag-Wolgast, sagte zur FTD: "Wir haben zwar ein sehr umfassendes Grundrecht auf Asyl und umfassende Rechtswege, aber eine enge Auslegung des Begriffs der politischen Verfolgung und eine eher restriktive Handhabe." Andere europäische Länder seien da großzügiger. Mit Blick auf die kommende Bundestagswahl lehnen Innenminister Schily und Bundeskanzler Schröder dennoch die geplanten EU-Richtlinien ab. Schily argumentiert, Vitorinos Vorschlag zum Familiennachzug führe dazu, dass statt 60.000 demnächst pro Jahr einige hunderttausend Familienangehörige zu ihren Verwandten nach Deutschland nachziehen werden. "Das würde den Handlungsspielraum erheblich einengen, den wir brauchen, um Zuwanderung nach unseren eigenen Interessen zu steuern", sagt der Sozialdemokrat. Deshalb besteht er gemeinsam mit dem Kanzler darauf, dass die grundlegenden EU-Richtlinien zu Einwanderung und Asyl von allen EU-Mitgliedstaaten einstimmig verabschiedet werden - obwohl sich Deutschland sonst bei jeder Gelegenheit gegen das Einstimmigkeitsprinzip ausspricht. Notfalls will Schily Vorschriften, die liberaler sind, als das deutsche Recht, mit einem Veto verhindern. Erst wenn die grundlegenden Richtlinien verabschiedet sind, wollen Schröder und Schily Mehrheitsabstimmungen zulassen. Der für die Regierungskonferenz in Nizza zuständige EU-Kommissar, Michel Barnier, hat die Hoffnung auf ein schnelles In-Kraft-Treten des Mehrheitsentscheides schon aufgegeben. Er forderte die Regierungschefs der Union am Donnerstag auf, in Nizza festzulegen, dass die Mehrheitsabstimmung zumindest ab 2004 gelten soll. Sonst, so der EU-Kommissar, "werden wir Schwierigkeiten haben, die Beschlüsse von Tampere zur Schaffung eines einheitlichen Rechtsraumes in Europa umzusetzen." Die Bundesregierung mauert in Brüssel nicht nur beim Familiennachzug und bei der Mehrheitsabstimmung. Zu einer handfesten Auseinandersetzung kam es bei der Beratung des Richtlinien-Entwurfes zu den "Mindestnormen beim Asylverfahren in den Mitgliedsstaaten." Dieser sieht vor, dass ein Asylbewerber nur in ein sicheres Drittland abgeschoben werden kann, zu dem er eine "Beziehung" hat. Außerdem müsse jeder Einzelfall geprüft werden. In Deutschland gibt es das nicht. Anhand einer Länderliste entscheidet das Bundesamt für die Anerkennung ausländischer Flüchtlinge, welche Drittstaaten sicher sind. Kommt der Asylbewerber aus einem dieser Länder oder hat ein solches bei seiner Reise nach Deutschland durchquert, stehen seine Chancen schlecht, anerkannt zu werden. Als Einziger hatte Bundesinnenminister Otto Schily lautstark beim Innen- und Justizrat Ende September gegen Vitorinos Vorschlag protestiert. Vor dem Hintergrund der deutschen Kritik besteht in Brüssel der Anschein, Deutschland habe bereits die Vorteile der geplanten Harmonisierung beim Asylrecht vergessen. So wird Vitorino nicht müde zu erinnern, dass "es im deutschen Interesse ist, dass die Unterschiede in der nationalen Gesetzgebung verringert werden". Er will insbesondere auch die Dauer des Asylverfahrens EU-weit begrenzen. Sein Vorschlag sieht vor, dass ein Asylbewerber grundsätzlich nur höchstens zweimal Berufung gegen einen negativen Asylbescheid einlegen kann. Bis zur Entscheidung des ersten Überprüfungverfahrens hat der Asylbewerber das Recht, im jeweiligen Land zu verbleiben. Das Mitgliedsland kann dann entscheiden, ob das Aufenthaltsrecht auch für die weitere Berufung gilt. Ist ein Antrag "offensichtlich unbegründet", kann ein Asylsuchender nach Plänen des Kommissars kurzfristig abgeschoben werden. Ein solches beschleunigtes Verfahren wird bereits in Deutschland an den Grenzen praktiziert. Schily hat mehrfach angedeutet, dass er eine generelle Beschleunigung der gerichtlichen Überprüfung will. Die Ausländerbeauftragte der Bundesregierung, Marieluise Beck sagt dagegen: "Die Möglichkeiten zur Verfahrensverkürzung sind weitgehend ausgereizt." Auch Schilys Staatssekretärin Sonntag-Wolgast ist dieser Ansicht. EU-Kommissar Antonio Vitorino lässt sich keinerlei Verstimmung über Schily anmerken, sondern gibt sich durchaus verständnisvoll: "Wir sind uns bewusst, dass Deutschland ein besonders Immigrations-Problem hat." Doch sein Verständnis hat Grenzen. Wenn es um die Durchsetzung seiner Vorschläge geht, bleibt Vitorino hart. "Wir werden uns mit aller Kraft für unsere Vorschläge zur Immigrations- und Asylpolitik einsetzen", so der Kommissar. "Sie sind die Umsetzung des in Amsterdam vereinbarten Ziels, einen europäischen Raum des Rechts im Bereich von Asyl und Immigration zu schaffen." Damit soll eine grundsätzliche Wende in der Immigrationspolitik eingeleitet werden. Nach seiner Ansicht ist in der EU bislang noch die Ansicht vorherrschend, dass Immigration den Arbeitsmarkt belaste. Doch Zuwanderung, so der Kommissar, könne dazu beitragen, den Arbeitskräftemangel in vielen Branchen zu lösen. Demografische Probleme Da mag Schily ihm noch zustimmen. Die Kommission weist aber auch darauf hin, dass die Zahl der Arbeitsfähigen in den nächsten zehn Jahren sinken wird, während die der Menschen im Alter von über 65 Jahren in den nächsten 25 Jahren drastisch steigen wird, und auch deswegen Zuwanderung notwendig sei. Hier platzt Schily der Kragen: Naiv sei es, durch Zuwanderung Probleme der Demografie lösen zu wollen, wettert der Innenminister. Vitorino fordert, langfristig sollten Zuwanderer die gleichen Rechte und Pflichten bekommen wie EU-Bürger - zum Beispiel das Wahlrecht und das Recht auf Sozialleistungen. Auch hier ist Schily skeptisch. Innenstaatssekretärin Cornelie Sonntag-Wolgast findet die Idee dagegen gut. Sie weist jedoch darauf hin, dass es ein Wahlrecht für Ausländer in Deutschland nur geben kann, wenn das Grundgesetz geändert wird. Bundeskanzler Gerhard Schröder zog es am Mittwoch im Bundestag vor, allgemein "mehr Modernität und Internationalität statt verquaster Vorstellungen zur Leitkultur" in Deutschland zu fordern. Magda Cybula aus Polen wird konkreter: "Wenn ich nicht dieselben Rechte habe, fühle ich mich als Außenseiterin." Ihr Kollege aus Jugoslawien ergänzt: "Wenn ich fünf Jahre hier lebe, ist Hamburg meine Stadt - natürlich will ich dann auch wählen dürfen." Die beiden können deutsche Ängste vor mehr Zuwanderung nicht verstehen. "Deutschland braucht doch die Ausländer, weil in vielen Bereichen Leute fehlen", sagt Magda Cybula. |