Neue Zürcher Zeitung (CH), 2.12.2000

Drastische Liquiditätsnot in der Türkei

Der IMF prüft eine Soforthilfe-Aktion

Der Internationale Währungsfonds (IMF) scheint bereit zu sein, der Türkei neue Finanzhilfe zur Überbrückung einer Liquiditätskrise zu gewähren, sofern das Land seine kürzlich angekündigten Wirtschaftsreformen umsetze.

it. Istanbul, 1. Dezember Der Internationale Währungsfonds (IMF) hat sich grundsätzlich bereit erklärt, der Türkei mit ausserplanmässigen Krediten aus der sich gefährlich zuspitzenden Liquiditätskrise zu helfen. Experten des Fonds werden am Wochenende in die Türkei reisen, um die Lage an Ort zu prüfen.

Nur konditionierte Aktionen
Noch ist allerdings nicht klar, ob der IMF bereit ist, weitere Mittel aus dem 4 Mrd. $ schweren Bereitschaftskredit frühzeitig auszuzahlen, so wie es die Türkei verlangt hatte. IMF-Direktor Horst Köhler hat lediglich zugesagt, er werde dem Direktorium empfehlen, der Türkei «zusätzliche Gelder» zur Überbrückung der Liquiditätskrise bereitzustellen. Vorbedingung sei allerdings die strikte Einhaltung der vor kurzem angekündigten Wirtschaftsreformen. Hauptziel dieser Reformen ist weiterhin die Bekämpfung der Inflation, die von derzeit noch rund 44% innerhalb von zwei Jahren einen einstelligen Wert erreichen sollte. Die Priorität dieses Stabilisierungsprogrammes liegt bei der Bekämpfung des Haushaltdefizites sowie bei einem weitreichenden Privatisierungsprogramm. Daneben ist auch eine tiefgreifendeReform des maroden Finanzsystems ins Auge gefasst worden.

Das gesamte türkische Finanzsystem war bereits vor zehn Tagen unter starken Druck geraten, als ausländische Investoren sich im Zug der «Argentinien-Krise» aus der Türkei zurückzogen. Von diesem «schwarzen Mittwoch» hat sich die türkische Börse seither nicht erholt. Gleichzeitig führte eine vom IMF geforderte Verschärfung der Bankenvorschriften zu weiteren Fluchtbewegungen. Nach Schätzungen der türkischen Finanzpresse haben seit dem schwarzen Mittwoch insgesamt 6 Mrd. $ das Land verlassen. Dieser zusätzliche Druck auf das Finanzsystem verschärfte wiederum die schwelende Strukturkrise im Bankensektor. Mehrere Banken mussten, als sie die schärferen Vorschriften nicht mehr einhalten konnten, unter staatliche Aufsicht gestellt werden. Das gefährliche Gemisch eines extrem volatilen Marktes und eines inflationären Umfeldes hatte viele Geldhäuser zu extrem riskanten Anlagen verführt. In mehreren Fällen laufen zudem Untersuchungen wegen krimineller Machenschaften: Die seit einiger Zeit laufende Antikorruptionskampagne brachte erschreckende Praktiken ans Licht. So wurde der Bankier Murat Demirel, der Neffe des bisherigen Staatspräsidenten Süleyman Demirel, gefilmt, als er kofferweise Dollars ins Ausland brachte. Obwohl dies an sich noch nicht verboten ist, beschäftigt sich die Justiz seither mit der Frage nach der Herkunft dieser Gelder. Das IMF hatte, nicht zuletzt wegen der Verquickung des milliardenschweren Drogenhandels mit dem Staat und mit der Finanzwelt, eine weitreichende Strukturreform des Bankensystems gefordert.

Reformgesten
Die Zusage des Währungsfonds, der Türkei unter die Arme zu greifen, ist direkt mit zwei Entscheiden in Ankara verknüpft. Erstens verzichtet die Zentralbank auf weitere Repo-Auktionen, mit der die Liquiditätskrise in den letzten Tagen überbrückt worden war. In der Folge kam es zwar wieder zu einem drastischen Anstieg der Zinssätze - die «Over night»-Sätze stiegen auf 400% an -, vom IMF wurde diese Massnahme aber ausdrücklich begrüsst. Zweitens hat die Regierungsich während einer nächtlichen Sitzung zum Entscheid durchgerungen, einen Teil der staatlichen Telekom-Gesellschaft zum Verkauf anzubieten. Die rechtsnationalistische MHP hatte sich in der Koalitionsregierung bis zuletzt gegen den Teilverkauf ausgesprochen, wurde nun aber angesichts des geringen Spielraumes von Regierung und Zentralbank, heil aus der Liquiditätskrise zu gelangen, wohl eines Besseren belehrt.