Neue Zürcher Zeitung (CH), 2.12.2000 Kampf in Konflikten von hoher Intensität Entwicklung neuer operativer Konzepte der Nato Vor kurzem hat das Nato-Regionalkommando Nordeuropa eine computerunterstützte Stabsrahmenübung durchgeführt, in welcher nicht Friedensoperationen, sondern Einsätze in Konflikten von hoher Intensität geschult wurden. Die Zusammenarbeit zwischen politischer und militärischer Führung sowie die Berücksichtigung einer dauernden Medienpräsenz standen unter anderem im Zentrum des Übungsgeschehens. Lz. Brunssum, im November Das mit topographischen Karten, Computern und Bildschirmen reich dotierte Lagezentrum, in dem Nato-Offiziere aus 17 Mitgliedstaaten an diesem Herbstmorgen unter praktisch feldmässigen Arbeitsbedingungen militärische Operationenplanen und leiten, entspricht dem üblichen Standard von Führungseinrichtungen der Nato. Zelte,Container und schwere Fahrzeuge mit Übermittlungsmaterial bilden einen Kommandoposten, der in unmittelbarer Nähe der Gebäulichkeiten des Hauptquartiers der alliierten Streitkräfte Nordeuropa (Allied Forces North Europe) im niederländischen Brunssum aufgebaut worden ist. «Constant Harmony» lautet der Codenamen dieser Übung, in welcher der Kommandobereich desOberbefehlshabers der Nato-Streitkräfte Nordeuropa einem Test unterzogen wird. Im Rahmender vor kurzem gebildeten neuen Nato-Kommandoordnung ist der frühere Bereich EuropaMitte unter der jetzt gültigen Bezeichnung Regionalkommando Nordeuropa geographisch erweitert und neu strukturiert worden. Kollektive Artikel-5-Operationen Dieses Mal stehen allerdings nicht Einsätze in Friedensmissionen wie gegenwärtig auf dem Balkan auf dem Programm, sondern es geht darum, kollektive Verteidigungsoperationen zu führen, wie sie in Artikel 5 des Nordatlantikvertrages vorgesehen sind. Peace-Support-Operationen sindThema von Übungen im Rahmen der Partnerschaft für den Frieden gemäss den standardisierten Modellen «Cooperative Guard» oder «Cooperative Determination». Im Übrigen diente auch für die Schulung eines Combined-Joint- Task-Force-Hauptquartiers (CJTF) 1997 auf dem Truppenübungsplatz im norddeutschen Munster eine Friedensoperation als «Kulisse». Auch wenn der Verteidigungsauftrag gemäss der 1999 in Washington verabschiedeten neuen Nato-Strategie als politische Klammer des Bündnisses einen ungebrochen hohen Rang einnimmt, geht es in Brunssum keineswegs darum, Modelle aus der Zeit des Kalten Krieges wiederaufleben zu lassen und den Kampf gegen massierte, linear und staffelweise angreifende gepanzerte Kräfte zu üben. Vielmehr handelt es sich darum, neuartige Einsatzverfahren unter ebenso veränderten politischen und militärischen Rahmenbedingungen in entsprechenden Schulungssequenzen zu üben und auf ihre Tauglichkeit zu prüfen. General Spiering will denn auch lieber von Konflikten von hoher Intensität («high-intensity conflicts») als von «klassischen» Artikel-5-Operationen sprechen. Mehrdimensionaler Krieg Erfahrungen, die während der Kriege im Golf und in Kosovo gewonnen wurden, sind in das Konzept der Übung eingeflossen. General Spiering geht in seinen Überlegungen davon aus, dassFriedensoperationen an der Peripherie des Bündnisgebietes unter Umständen rasch in einen mehrdimensionalen Krieg münden können. Dabei ist seiner Ansicht nach realistischerweise damit zu rechnen, dass auch Territorien von Allianzpartnern unverzüglich in solche Auseinandersetzungen mit einbezogen werden können. Falls dieNato im Kosovokrieg tatsächlich auch Bodenoperationen ins Auge gefasst hätte, wäre mit kriegerischen Ausweitungen, wie sie dem Übungsszenario zugrunde liegen, zu rechnen gewesen. Da klare Trennlinien zwischen Friedensoperationen und Einsätzen von hoher Intensität zuweilen kaum zu ziehen sind, will die Nato prinzipiell Soldaten einsetzen, die das gesamte Spektrum von Konfliktmöglichkeiten abdecken können. Informationsflut meistern Zudem werden militärische Chefs sich in der Fähigkeit ausweisen müssen, in der Informationsflut nicht unterzugehen und mit den Medien zu kommunizieren. Die in modernen Konflikten fast allgegenwärtige Präsenz von Fernsehen, Radio und Presse verlangt eine feine Abstimmung der Informationspolitik auf die Informationskriegführung, da Letztere als «nichtletales Kampfmittel» auch darauf abzielt, Massnahmen des Gegners zu unterlaufen. Da die elektronischen Medien spektakuläre Ereignisse sehr rasch in die Öffentlichkeit tragen und damit auch die Politik beeinflussen können, ist die militärische Führung dazu gezwungen, solche Vorfälle sorgfältig zu überprüfen. Dabei ergibt sich ein oft nur schwer lösbares Spannungsverhältnis. Entscheidend ist im Weiteren, dass eigene Verluste, aber auch sogenannte kollaterale Schädenauf gegnerischem Territorium von der Öffentlichkeit - anders, als dies im Klima des Kalten Krieges noch der Fall war - nicht mehr von vorneherein akzeptiert werden. In diesem Sinne hat sich Spiering während der Übung beispielsweise dazu entschieden, auf die Ausschaltung eines neuralgischen militärischen Zieles deshalb zu verzichten, weil sich in unmittelbarer Nähe ein Spital befand. Rasche Konfliktbeendigung In diesem Kontext spielt das Operationszentrum als Herz des Regionalkommandos eine Schlüsselrolle. Unter Führung des amerikanischen Generalmajors Greg Rountree, des stellvertretenden Stabschefs Operationen in Brunssum, derübrigens schon bald eine neue Funktion im Pentagon antreten wird, werden die verschiedenen Operationen zeitlich aufeinander abgestimmt und der tägliche Kampfverlauf mit den weitreichenderen Planungen koordiniert. Für diese anspruchsvolle Tätigkeit, man bezeichnet sie als Joint Coordination Process, ist eine interdisziplinäreStabsorganisation verantwortlich. Der direkte Zugang der in den Prozess involvierten, in Containern untergebrachten Stabsabteilungen zum Lagezentrum erleichtert die eng vernetzten Arbeitsabläufe. Parallel zur Übung verfasst eine Arbeitsgruppe des Hauptquartiers eine Studie über neue Formen der Kriegführung («Changing nature of warfare»), die auf Grund der erzielten Resultate verfeinert und noch vor Ende Jahr fertiggestellt werden soll. Deren Erkenntnisse sollen später in operative Konzepte der Allianz Eingang finden. Nicht zuletzt vor dem Hintergrund des geplanten Aufbaus europäischer Kapazitäten für Kriseneinsätze bilden neuartige operative Modelle, wie sie die Nato jetzt studiert, wichtige Grundlagen für pragmatische Lösungen künftiger Kooperation und Arbeitsteilung. Wie immer auch die Entwicklung verlaufen mag: Die Krisenbewältigung mit militärischen und vor allem auch mit politischen Mitteln und Massnahmen wird auf absehbare Zeit ein Schlüsselelement im Sicherheitskonzept des Bündnisses bleiben. |