Hannoversche Allgemeine Zeitung, 4.12.2000 Im Land der Minderheiten Es ist kein Zufall, dass sich Türken und Kurden in diesen Tagen schwerer denn je über den Minderheitenbegriff verständigen können. Kürzlich hat die Europäische Union ihren Kriterienkatalog für eine Beitrittspartnerschaft der Türkei zur EU vorgelegt, heute wollen die EU-Außenminister das Papier verabschieden. Einerseits wird darin auf die Kurden in Südostanatolien nicht ausdrücklich hingewiesen, andererseits wird von der EU eine Gewährung von Minderheitenrechten gefordert, nicht zuletzt für die Kurden im Südosten des Landes. Kein Wunder, dass eine Tagung der Evangelischen Akademie Bad Boll über die Bedeutung einer türkischen Mitgliedschaft für das unterentwickelte und jahrzehntelang bürgerkriegsgeplagte Südostanatolien zahlreiche Teilnehmer findet, die dort ihre familiären Wurzeln haben - teils zählen sie zu den rund 700 000 in Deutschland lebenden Kurden, teils sind sie eigens aus der Region angereist. Unter den türkischen Demokratiedefiziten leiden indes keineswegs nur die Kurden, skizzierte Hüsnü Öndül, Vorsitzender des Menschenrechtsvereins der Türkei, bei der Tagung: Schon die Verfassung billigt Grundrechte ausdrücklich nicht "dem Menschen" - sondern nur "dem Türken" zu. Sie bekennt sich zur Trennung von Staat und Kirche - und sieht dennoch für den Islam eine Sonderbehörde vor. Und über der "gelenkten Demokratie" schwebt der nationale Sicherheitsrat, in dem die Generäle Gesetzgebung, Polizei und Justiz kontrollieren. Hakki Keskin forderte dagegen Verfassungsreformen, die die individuellen Rechte aller Bürger gewährleisten. Viele kurdischstämmige Teilnehmer verlangten darüber hinaus kollektive Rechte: So müssten Fernsehsendungen und Schulunterricht in kurdischer Sprache den Kurden als Gruppe garantiert werden, sagte Bayram Bozyel, Publizist aus Diyarbakir. "Und was ist mit Gruppenrechten, die den Menschenrechten Hohn sprechen?", wandte Sema Kilicir, Repräsentantin der EU-Kommission in Ankara, ein. "Sollen Fememorde, die Zwangsverheiratung von Töchtern oder gar Beschneidungen jetzt als multikulturelle Folklore Duldung finden?" Manchen der in Bad Boll anwesenden Kurden gehen Gruppenrechte für Minderheiten ohnehin nicht weit genug. Der frühere Bürgermeister der südostanatolischen Stadt Bingöl, Seladin Kaya, konstatierte: "Die Kurden sind die größte Nation der Welt ohne eigenes Staatsgebiet - und im Mittleren Osten gab es sie schon Jahrhunderte, bevor sich dort Türken ansiedelten." Zielen solche Erklärungen doch auf eine Loslösung des Südostens von der Türkei ab, auf jenen eigenen Staat, dem angeblich sogar die PKK längst abgeschworen hat? "Gewiss nicht", versicherte Abubekir Saydam, Direktor des Internationalen Vereins für die Menschenrechte der Kurden. Aber die Kurden dürften nicht wie eine von vielen Minderheiten von Ankara aus regiert werden. "Auf lange Sicht ist eine türkisch-kurdische Föderation sinnvoll." Weniger umstritten waren die wirtschaftlichen Folgen eines EU-Beitritts für den Südosten. Dort beträgt das Durchschnittseinkommen auf dem Lande nur ein Fünftel des türkischen Pro-Kopf-Jahreseinkommens von 3000 US-Dollar, dort ist jedes zweite Kind unterernährt und die Säuglingssterblichkeit dreimal so hoch wie in der übrigen Türkei. Eine Linderung der Armut erwarteten die Tagungsteilnehmer nicht zuletzt mit Blick auf Brüsseler Fördertöpfe. In den Genuss des Geldsegens wird die Region freilich kaum kommen, wenn die EU den kurdischen Wünschen folgt, die Latte für den Beitritt gerade in der Minderheitenfrage besonders hoch zu legen. Einen Ausweg aus diesem Konflikt hatte keiner der kurdischen Aktivisten in Bad Boll parat - stattdessen forderte der junge Mahmut Uslu kulturelle Schützenhilfe. "Die EU sollte ihre Schriften auf kurdisch publizieren", verlangte er und fügte grinsend hinzu: "Allerdings kommt sie dann vor den Staatsgerichtshof." |