Frankfurter Rundschau, 4.12.2000 Die vielen Gesichter der Angst Im Gazastreifen kämpfen die Palästinenser ums Überleben, Hoffnung gibt ihnen nur die Intifada Von Inge Günther (Gaza) Kaum dass der Grenzpunkt Eres hinter uns liegt und palästinensisch-autonomes Gebiet beginnt, drückt Mohammed aufs Gaspedal. "Auf den nächsten paar hundert Metern", sagt er und deutet mit dem Daumen nach rechts, zu den sich im Hintergrund duckenden flachen Gebäuden hin, "können israelische Scharfschützen problemlos auf uns schießen." Ob unser Fahrer Eindruck schinden will oder tatsächlich ernsthaft besorgt ist, lässt sich nicht ausmachen. Zu surreal wirkt der Moment. Genauso wie der Stau an der Tankstelle ein Stück weiter. Nicht Autos stehen dort Schlange, sondern dutzende Eselskarren. Ihre Besitzer füllen Blechkanister mit Kerosin auf. Ersatz für das Kochgas, das Mangelware geworden ist, seit die Israelis wochenlang die Einfuhr gestoppt haben. Auch an anderem fehlt es. Etwa am Baustoff Beton, dessen Import Israel jahrelang in bester Kooperation mit palästinensischen Autonomiebehörden monopolisiert hat. Nichts allerdings ist infolge der über den Gazastreifen verhängten Blockade so knapp wie Geld. Mit nur zwanzig Schekel täglich - umgerechnet zwölf Mark - muss die 13-köpfige Familie Hinawi aus Schati, dem Flüchtlingslager am Strand von Gaza-City, auskommen. Das ist der Lohn, den der 18-jährige Sohn Emad als Hilfsarbeiter bei einem palästinensischen Installateur erhält. Zwanzig Schekel, die den Seinen weniger als das Existenzminimum bescheren, aber in seinem Fall eine Art Lebensversicherung bedeuten. Die Teilnahme an den gewaltsamen Demonstrationen haben ihm die Eltern strikt untersagt. Emad, merkt die Mutter an, "ist unser einziger Ernährer". Vater Yousef Hinawi (37) hat seit zwei Monaten keinen Schekel heimbringen können. Die Grenzen sind zu. Damit ist er seinen Job als Fliesenleger in Israel los, der fast zwanzig Jahre lang der Familie ein sicheres Einkommen garantierte. "Ich schlafe nur noch und tue nichts", sagt er bitter, als er sich augenreibend in seiner gelben ausgebeulten Trainingshose auf einem Plastikstuhl niederlässt. "Du stirbst hier selbst für nichts", pflichtet der Großvater bei. "Was kann schon ein Stein gegen einen israelischen Panzer ausrichten." Soll heißen, es lohnt sich nicht, dabei das Leben zu riskieren. Und doch findet sich in der Runde keiner, der für einen Stopp der Intifada ist, des palästinensischen Aufstands. "Zumindest nicht jetzt", stellt Yousef Hinawi klar, darauf bauend, dass sie am Ende - "Inschallah" - eine gerechte Lösung bringe. "Bis dahin leben und sterben wir wie der Rest unseres Volkes." Kaum bessere Zukunftsaussichten sieht der Intellektuelle Ragi Sourani, Direktor des Palestinian Center for Human Rights. "Es ängstigt mich bis in die Knochen", räumt er ein, "aber ich fürchte, eine lange, blutige Zeit liegt vor uns." Trotz des Sprints, mit dem Israels Premier Ehud Barak vor den Neuwahlen eine Verhandlungslösung zu erzielen versuche. So sehr die israelische Rechte und Linke auch der Wunsch nach einem Waffenstillstand eine - "für uns bedeutet er politischen Selbstmord". Zu weit sei Israel von der Einsicht entfernt, dass es keinen Frieden gibt, solange die Siedlungen fortbestehen. Im Gazastreifen sind es Souranis Angaben zufolge 42 Prozent an Land, die die Israelis nach wie vor kontrollieren. Seine Mutter pflege deshalb zu sagen: "Selbst diesen Müllhaufen Gaza gönnen sie uns nicht. Was haben wir noch zu verlieren?" Nicht mehr viel. Vom Osloer Prozess ist als Hinterlassenschaft nur Desillusion geblieben. Dabei hatten die Palästinenser in Gaza beim umjubelten Einzug der PLO unter Führung Yassir Arafats sich mit Rosen und Handküssen von israelischen Besatzungssoldaten verabschiedet. Zwei Jahre brauchte Sourani, ein entschiedener Friedensbefürworter, aber auch Oslo-Kritiker, "um das zu verstehen. Sie wollten sich Hoffnung auf Frieden kaufen." Der Vorrat hat sich in sieben Jahren von Oslo verbraucht: an den militärischen Checkpoints mit ihrer demütigenden Prozedur, auch am Bürokratismus einer oftmals korrupt agierenden Autonomieverwaltung und vor allem in Camp David. "Ich glaube Barak", sagt Sourani, "dass sein Verhandlungsangebot generöser war als das seiner Vorgänger. Aber für die palästinensischen Minimalforderungen war es absolut zu wenig." Wenn die Israelis sagen würden, "wir akzeptieren die UN-Resolution 242 als Basisformel für Land gegen Frieden, aber haben mit der Umsetzung ein paar Probleme", damit ließe sich Ernsthaftes anfangen. Falls Arafat jedoch sich mit Geringerem abspeisen lasse, "wird sich die Intifada statt gegen unsere jüdischen Vettern gegen ihn selbst richten". Auf dem Fernseher in Souranis Büro stehen in Orgelpfeifenreihe verschossene Munitionsteile "made in USA", das kleinste einen, das größte fast vierzig Zentimeter hoch. Wie eine Bodenvase hat er darunter ein Raketenstück hingestellt. Welch fatalen Verletzungen diese Waffen verursachen können, hat sein Menschenrechtszentrum ausführlich dokumentiert. "Wenn Yitzhak Rabin in der ersten Intifada noch davon sprach, den Palästinensern ,die Knochen zu brechen'", kommentiert der Bürgeranwalt, "geht es den Israel diesmal darum, ihnen die Schädel zu brechen." Um seinen Kindern solch schwer erträglichen Anblick zu ersparen, scheucht Sourani sie aus dem Zimmer, sobald die TV-Nachrichten kommen. Nach den Luftangriffen auf Gaza-City leiden sie ohnehin unter Albträumen. Auch mag er den "politischen Zirkus" nicht, der um die "Märtyrer" veranstaltet wird. "In der ersten Intifada hatten wir in 48 Stunden eine vereinte Führung und ein politisches Programm. In den zwei Monaten der neuen Intifada haben wir nur vereinte Pamphlete." Dennoch ist er - nicht zuletzt nach Gesprächen mit israelischen Bekannten - überzeugt, dass es keine Alternative zum Widerstand gibt. Für ihn eine logische Schlussfolgerung nach Israels Rückzug aus dem Guerillakrieg mit der Hisbollah in Südlibanon. "Sie scheinen es sonst nicht zu begreifen, dass sie nicht noch jahrzehntelang die Besatzung aufrecht erhalten können." An libanesische Verhältnisse aus jüngster Vergangenheit erinnert bereits das Gebäude der Fatah in Gaza-City. Das Büro von Generalsekretär Achmed Hilles ist nur noch ein offenes Loch. Als Vergeltungsschlag für die Bombe auf einen Siedlerbus hat Israels Marine "mit chirurgischer Genauigkeit", so rühmt sie sich, eine lasergesteuerte Rakete dorthin lanciert. Die Druckwelle ließ sämtliche Hausfenster platzen. Die Bewohner hatten zuvor das Weite gesucht. Neben seinem verkohlten Schreibtischstuhl posiert Hilles nun für ein Foto. Nicht unbedingt eitel, aber bemüht, der erwarteten Rolle zu entsprechen. So wie er auch sein Amt ausfüllt, niemals von der Linie des PLO-Mehrheitsflügels abweichend. "Unser Kampf dient der Selbstverteidigung", sagt Hilles. Deshalb habe die Fatah bislang Israelis in ihren Städten nicht attackiert. Wenn aber "unsere Zivilisten bombardiert werden, kann auch die Sicherheit israelischer Zivilisten nicht mehr garantiert werden". Und was ist mit Waffenruhe und Gesprächen? Die Autonomie-Regierung, erwidert er, habe nie die Hoffnung auf eine Verhandlungslösung verloren. Wenn Israel die Grenzen von 1967 anerkenne, mache ein Bemühen darum Sinn. Wenn nicht, "werden wir uns von überall her weitere Waffen kaufen, selbst auf dem israelischen Schwarzmarkt". Einen politischeren Kopf besitzt dagegen Abdel Hakim Awad, seines Zeichens Präsident der Fatah-Jugendorganisation Schabiba, die mit 17 000 aktiven Mitgliedern in Gaza so etwas wie die Basis der Intifada darstellt. Durchaus stolz erzählt der 35-jährige von seinen Besuchen "alle drei, vier Tage" bei Arafat. Von daher wisse er, dass Israel sich im Konfliktpunkt Jerusalem inzwischen flexibler als in Camp David zeige. "In den ersten Wochen wollten wir keine Verhandlungen, aber jetzt könnte es nützlich sein, von diplomatischen Schritten zu profitieren." Nisrien Abdullah, eine 22-jährige Anglistikstudentin, fällt ihm ins Wort. "Jede Verhandlungslösung muss zumindest unsere Opfer aufwiegen", verlangt sie, ganz emanzipierte Moslemin. Schweigend holt Awad auf seinen Computerbildschirm das Bild eines Getöteten, dessen Hirnhälfte weg geschossen wurde. Auch solcher Horror muss bei einem neuen Friedensversuch überwunden werden. Beim Rückweg aus Gaza ist die Dunkelheit eingebrochen. Als wir uns zu Fuß der israelischen Seite des Übergangs Eres nähern, richten uns blutjunge Soldaten einen grellen Scheinwerfer ins Gesicht. "Stehenbleiben!", tönt es aus ihrem Megafon. Erleichtert, dass es sich nicht um Fatah-Kämpfer, sondern um ausländische Journalisten handelt, schicken sie mit Galgenhumor ein "good morning, Vietnam" hinterher. Angst kennt keine Grenzen. |