Stuttgarter Zeitung, 04.12.2000 Straßburger Richter urteilen über Karlsruher Kollegen In Deutschland gibt es 1174 Gerichte in sechs "Gerichtsbarkeiten'' mit mehreren Instanzen. In Europa sind noch weitere für uns wichtig. Wir stellen sie vor. Von Stefan Geiger Sie werden in Deutschland kaum wahrgenommen, von manchen Kollegen nicht ganz ernst genommen. Das ist ein Fehler. In anderen Ländern ist das anders. Wenn beispielsweise die Türkei Fortschritte macht auf dem Weg zu einem Rechtsstaat, der Menschenrechte akzeptiert, dann ist dies nicht zuletzt ein Verdienst der Richter des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte in Straßburg. Das Gericht hat vor Ort recherchiert, es hat die Türkei immer wieder verurteilt: wegen Folter, wegen Todesfällen im Polizeigewahrsam, wegen der Verweigerung von Recht. Die Türkei hat dies akzeptiert, zähneknirschend zumeist, sie hat an die Opfer Entschädigungen gezahlt, und sie lässt sich inzwischen auf "gütliche Einigungen'' ein, die den Opfern helfen. Darunter sind sehr vernünftige, einfallsreiche Vergleiche: beispielsweise dass dänische Beamte türkische Polizisten in Sachen Menschenrechte schulen. In Deutschland hat man lange geglaubt, man brauche die Straßburger nicht, weil es hier, anders als in anderen Ländern, das Recht eines jeden Bürgers gibt, wegen vermuteter Grundrechtsverstöße vor das Bundesverfassungsgericht zu ziehen. Und dann hat Straßburg ausgerechnet den Verfassungsrichtern Beine gemacht, als es Deutschland wegen überlanger Dauer der Verfahren in Karlsruhe verurteilte. Der Menschenrechtsgerichtshof ist anders als der Europäische Gerichtshof in Luxemburg keine Institution der EU, sondern des Europarats. Ihm gehören 41 Richter an, für jeden Mitgliedstaat des Europarats einer. Deshalb sind dort Richter beispielsweise aus Albanien, aus Russland und aus Zypern. Anrufen kann den Gerichtshof jedermann, der einen Verstoß gegen die Europäische Menschenrechtskonvention von 1950 reklamiert. 8396 Kläger haben dies 1999 getan. Die meisten Beschwerden werden bereits in Ausschüssen mit drei Richtern ausgefiltert. Jene Kläger, die so weit kommen, dass eine Kammer mit sieben Richtern, in wichtigen Fällen eine große Kammer mit 17 Richtern, sich intensiver mit ihrem Fall beschäftigt, haben am Ende auch meist Erfolg: In 120 Fällen hat das Gericht 1999 einen Mitgliedstaat des Europarats verurteilt, nur in 11 Fällen, die mit einem Urteil abgeschlossen wurden, keine Menschenrechtsverletzung festgestellt. In 42 Fällen kam es zu einer "gütlichen Einigung''. Die meisten Verurteilungen kassierte 1999 Italien, freilich fast ausschließlich wegen der vergleichsweise lässlichen Sünde überlanger Gerichtsverfahren, dann folgt die Türkei, wegen in der Regel massiver Menschenrechtsverstöße. Der Gerichtshof stößt mit der Arbeitslast bereits an seine Grenzen, vor allem seitdem eine große Zahl von Klagen aus Russland kommt. Urteile aus Straßburg sind in den Mitgliedstaaten nicht unmittelbar vollstreckbar. Die Regierungen haben sich aber verpflichtet, sie umzusetzen. Nicht alle halten sich daran. |