Neue Zürcher Zeitung (CH), 6.12.2000
Ankara über die EU-Beschlüsse erleichtert
Lösung des Zypern-Konflikts nicht mehr bindend
Nach dem wochenlangen Streit zwischen der türkischen Regierung und
der EU zeichnet sich eine Normalisierung der Beziehungen zu Brüssel
ab. Grund dafür ist der von den EU-Aussenministern verabschiedete
Text zur Beitrittspartnerschaft mit der Türkei. Sowohl in Ankara
wie auch in Athen war von einem Kompromiss die Rede.
it. Istanbul, 5. Dezember
Die Türkei hat am Dienstag mit Erleichterung auf den vom EU-Aussenministertreffen
verabschiedeten Text zur Beitrittspartnerschaft Ankarasreagiert. So sah
die liberale Tageszeitung «Radikal» die Beziehungen der Türkei
und der EU bereits in ein Happy End münden, während die auflagestarke
«Milliyet» vom Ende einer Krise sprach. Zurückhaltender
Optimismus spiegelte sich in den Erklärungen der Regierung wider.
Die EU-Beschlüsse seien erfreulich, erklärte der türkische
Aussenminister Cem. Sein Stellvertreter, Logoglu, meinte allerdings, es
gebe keinen Grund zum Triumphieren. Die Aussenminister hätten aber
signalisiert, dass sie der Türkei keine zusätzlichen Hindernisse
in den Weg legen wollten.
Weichen für die Partnerschaft gestellt
Nach einem wochenlangen Streit mit Ankara war am EU-Aussenministertreffen
ein überraschender Durchbruch erzielt worden. Die Weichen für
eine Partnerschaft mit der Beitrittskandidatin Türkei sind gestellt.
Dies sei ein wesentlicher Schritt für die EU, aber auch für
die Türkei,sagte der französische Aussenminister und amtierende
EU-Ratspräsident Védrine. Der Streit zwischen Brüssel
und Ankara war Anfang Novemberentbrannt, als die EU-Kommission einen Lagebericht
veröffentlicht hatte. Die Kommission hatte darin die wirtschaftlichen
und politischen Reformen aufgelistet, welche die Türkei auf ihrem
Weg in die EU durchführen muss. Ankara reagierte gespalten auf dem
Bericht. Die Drei- Parteien-Koalition konnte sich in wichtigen Fragen
nicht einigen, beispielsweise ob Radio- undFernsehsendungen in Kurdisch
zugelassen werden sollten, wie Brüssel es forderte, und ob Meinungsfreiheit
nach europäischen Kriterien auch in der Türkei geeignet wäre.
Dass die EU- Kommission in ihrem Bericht auch die Lösung des Zypernkonflikts
zu den kurzfristigen Kriterien gezählt hatte, gab Ankara die rettende
Entschuldigung dafür, so formulierte es ein Kommentator, gleich die
ganze Beziehung zur EU in Frage zu stellen.
Noch vor wenigen Tagen hatte Präsident Sezer erklärt, die Welt
bestehe nicht nur aus der EU. Gemeint war damit, dass Ankara einen Bruch
mit Brüssel riskieren könnte. Der Regierungschef Ecevit hatte
der EU Verrat vorgeworfen, und Aussenminister Cem hatte von kolonialistischem
Verhalten gesprochen. Beinahe einstimmig forderte Ankara, dass die Bereinigung
des Zypernkonflikts als kurzfristiges politisches Kriteriumentfernt werde.
Dies stiess freilich auf den Widerstand Athens, das eine Lösung auf
der seit dem Vormarsch der türkischen Soldaten 1974 geteilten Mittelmeerinsel
Zypern so rasch wie möglich durch Brüssel herbeiführen
möchte.
Wirtschaftlicher Engpass
Der nun in der Zypernfrage erreichte Kompromiss hat offenbar beide Seiten
zufriedengestellt. Dem Wunsch Ankaras folgend, wurde die Lösung des
Konflikts von der Liste der zeitlich befristeten politischen Kriterien
gestrichen. Das Thema wird aber in einem neuen Kapitel unter dem Titel
verstärkter politischer Dialog weiterhin behandelt. Indiesem Kapitel
wurde, den Wünschen der Athener Regierung entsprechend, auch die
Lösung der griechisch-türkischen Grenzstreitigkeiten in der
Ägäis hinzugefügt - sehr zum Missmut Ankaras. Die türkische
Presse vermutet, dass vor allem der Druck hinter den Kulissen die Regierungen
beiderseits der Ägäis zum Einlenken bewogen hat. So soll laut
«Hürriyet» Athen dem französischen Kompromiss erst
nach einer Intervention der USA zugestimmt haben. Die Türkei ihrerseits
wird seit Wochen von einer schweren Finanzkrise erschüttert und führt
gegenwärtig Gespräche mit dem Internationalen Währungsfonds
(IMF) über neue Überbrückungskredite, die hierzulande bitter
nötig sind. Ankara musste dem Kompromiss der EU wohl zustimmen, um
die Gespräche mit dem IMF nicht negativ zu beeinflussen.
H. G. Athen, 5. Dezember
Optimismus in Athen
Der sozialistische griechische Regierungschef Simitis hat sich am Dienstag
optimistisch über die Erfolgsaussichten des Gipfels der Staats- und
Regierungschefs der EU in Nizza geäussert. Letzte Woche hatten Aussenminister
Papandreou und seine Stellvertreterin für Europa-Angelegenheiten,
Papazoi, noch ein düsteres Bild von kaum zu überbrückenden
Meinungsverschiedenheiten zwischen den Mitgliedsstaaten der EU gezeichnet.
Der EU-Fahrplan der Türkei, die im Dezember in Helsinki in den Kreis
der Beitrittskandidaten aufgenommen worden war, bereitete zu diesem Zeitpunkt
Athen grosses Kopfzerbrechen. Nachdem Ankara die von der EU-Kommission
in ihrem am 8. November vorgelegten Entwurf genannten Verpflichtungen
in dem Dokument überdie Beitritts-Partnerschaft mit der Türkei
zurückgewiesen hatte, wurde in Athen ein RückzieherBrüssels
bei den schon in Helsinki festgeschriebenen Auflagen betreffend den Beitrag
der Türkeizur Lösung des Zypern-Problems und zur Beilegung der
Differenzen mit Griechenland in derÄgäis befürchtet. In
griechischen Regierungskreisen war schon davon die Rede, in Nizza den
ganzen Erweiterungs- und Umstrukturierungsprozess der EU zu blockieren,
falls diese Vorbedingungen für die Aufnahme von Beitrittsgesprächen
mit der Türkei fallen gelassen werden sollten.
Aussenminister Papandreou setzte sich mit dem Vorschlag durch, die dornige
Frage einvernehmlich zu lösen und den anderen Europäern einen
gemeinsamen griechisch-türkischenAusweg vorzuschlagen. Dieser Durchbruch
gelang am Donnerstag bei bilateralen Gesprächen. Die für Athen
und Ankara in gleicher Weise zufriedenstellende Neuformulierung des strittigen
Kapitels im Text der Beitritts-Partnerschaft wurde am Montag vom EU-Aussenministerrat
gebilligt und am folgenden Tag in Athen der Presse vorgestellt.
Auch Ministerpräsident Simitis bezeichnete es in einer Erklärung
als einen grossen Erfolg Griechenlands, dass die Türkei in dem neuen
Text verpflichtet bleibt, die Bemühungen der Uno um eine Lösung
des Konflikts auf Zypern zu unterstützen und die Differenzen mit
Griechenland auffriedlichem Wege beizulegen. Das Entgegenkommen gegenüber
Ankara liegt darin, dass in der neuen Formulierung nicht mehr von der
Türkei abverlangten Kriterien die Rede ist, sondern von einem politischen
Dialog, der zudem bei den bilateralen Differenzen nicht mehr kurzfristig,
sondern mittelfristig geführt werden muss. Kritische griechische
Stimmen in Athen sprachen sofort von einem Abgleiten von den bisher festgeschriebenen
Kriterien in einen nebulosen Dialog. EU-Diplomaten zeigen sich befriedigt
über den Kompromiss. Er komme Griechenland entgegen, und die Türkei
könne ihr Gesicht bewahren.
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