Süddeutsche Zeitung, 9.12.2000 "Es fehlt an politischem Willen" Koran im Klassenzimmer Immer drängender fordern muslimische Verbände einen islamischen Religionsunterricht / Von Andrea Exler und Matthias Drobinski Der Schreck war groß, als vor zwei Jahren das Berliner Oberverwaltungsgericht der "Islamischen Föderation" den Status einer Religionsgemeinschaft zusprach - damit darf der Verein an Berliner Schulen Religionsunterricht abhalten. Der Föderation werden Verbindungen zur türkisch-islamistischen Milli Görüs nachgesagt. Fundamentalisten als Reli-Lehrer in Berlin? Erst jetzt merkte der Senat, dass er jahrelang ein Problem ignoriert hatte. Man klagte beim Berliner Verfassungsgericht gegen die Anerkennung - vergebens. Nun prüft die Senatsschulverwaltung, ob die Lehrpläne des Vereins mit dem Grundgesetz vereinbar sind. Der Berliner Schulstreit ist mehr als eine Lokalgeschichte - auch wenn die Grundgesetzklausel, die das alles ermöglichte, nur für Bremen und Berlin gilt: Dort verantwortet nicht der Staat in Übereinstimmung mit den Religionsgemeinschaften den Unterricht, sondern die jeweilige anerkannte Religionsgemeinschaft in Eigenregie. Das Grundproblem ist jedoch in Nordrhein-Westfalen, Bayern oder Berlin das gleiche: Es gibt für die mittlerweile 570 000 muslimischen Schüler in Deutschland keinen Religionsunterricht, der mit katholischer oder evangelischer "Reli" zu vergleichen wäre. Und immer heftiger drängen die muslimischen Verbände, dass sich daran etwas ändert. Der Islamrat und der Zentralrat der Muslime, ansonsten eher Konkurrenten, klagen gemeinsam in Nordrhein-Westfalen, um einen islamischen Religionsunterricht zu erzwingen - in deutscher Sprache, mit Lehrern, die in Deutschland ausgebildet wurden. In Berlin klingen die Forderungen ähnlich. Gerade für die hier geborene Generation sei es wichtig, die muslimischen Traditionen zu kennen, sagt Kazim Aydin, der Vorsitzende des Türkischen Elternvereins Berlin-Brandenburg, der sich seit Jahren für Islamunterricht in der Schule einsetzt: "Obwohl sie einen deutschen Pass haben, erleben diese Jugendlichen oft, dass die Umwelt sie nicht als Deutsche betrachtet. Dann kann es passieren, dass sie sich in die Lebenswelt ihrer Vorfahren flüchten, um so leichter, je weniger sie darüber wissen". Unüberwindliche Probleme Derzeit jedoch stehen die Muslime in Deutschland vor einem unüberwindlichen Problem: Sie sind nicht als Kirche organisiert wie die christlichen Konfessionen, und sie können sich auch nicht auf einen Dachverband als Ansprechpartner für Schulbehörden und Kultusministerien einigen, wie die jüdischen Kultusgemeinden. Die Kultusministerien in den Bundesländern halten aber bislang einen Ansprechpartner für notwendig, der für "den" Islam spricht. In Hessen haben sich deshalb muslimische Verbände bis hin zu Milli Görüs zur Islamischen Religionsgemeinschaft Hessen zusammengetan und wollen als Religionsgemeinschaft anerkannt werden; das Kultusministerium in Wiesbaden prüft noch. So bleiben derzeit nur vielfach unbefriedigende Alternativen. In Berlin sind die Eltern auf die Koranschulen der Moscheevereine angewiesen; in den staatsnahen türkischen DITIP-Moscheen unterrichten Imame, die Ankara schickt. Ungefähr die Hälfte der 70 000 schulpflichtigen türkischen Kinder in Berlin besucht diesen Islamunterricht, dem oft vorgeworfen wird, er fördere die Distanz zur deutschen Gesellschaft. In Baden-Württemberg, Schleswig-Holstein und dem Saarland erteilen vom türkischen Staat geschickte Lehrer im muttersprachlichen Unterricht Religionskunde. Bayern wirbt Lehrer aus der Türkei an und kontrolliert die Unterrichtsmaterialien - Kritiker bemängeln, dass die Bücher aus der Türkei nationalistisch gefärbt seien. In Nordrhein-Westfalen läuft seit gut einem Jahr ein Islamkunde-Modellversuch: Unterrichtet wird in Deutsch nach staatlichen Lehrplänen mit in Deutschland ausgebildeten Lehrern; die Teilnahme ist Pflicht. Trotzdem sind die organisierten Muslime an Rhein und Ruhr unzufrieden. Sie wollen keine staatliche Religionskunde, sondern einen Religionsunterricht, bei dem sie mitentscheiden können. "Aus unserer Sicht fehlt es schlicht an politischem Willen, uns als Partner zu akzeptieren", sagt Nadeen Elyas, der Vorsitzende des Zentralrats der Muslime in Deutschland.
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