Frankfurter Rundschau, 11.12.2000 Ankara verschiebt Eröffnung der neuen Gefängnisse Hungerstreik zwingt Regierung zum Einlenken / Geplante Amnestie schließt "Politische" aus Von Gerd Höhler (Athen) Angesichts des Hungerstreiks hunderter Häftlinge hat die türkische Regierung die Verlegung von Inhaftierten in kleinere Zellen auf unbestimmte Zeit verschoben. Zugleich zeichnete sich am Wochenende ein Ende des seit 52 Tagen andauernden so genannten "Todesfastens" in mehreren Haftanstalten ab. An der Protestaktion beteiligten sich zuletzt 203 Gefangene. Die Gefangenen widersetzen sich mit ihrem Hungerstreik der geplanten Verlegung in neue Hochsicherheitsgefängnisse, die Einzelzellen statt der bisher üblichen Schlafsäle für bis zu 100 Häftlinge haben. Sie befürchten, dass sie in den neuen Vollzugsanstalten isoliert und misshandelt werden. Am Samstagabend gab Justizminister Hikmet Sami Türk bekannt, die Inbetriebnahme der neuen Gefängnisse werde auf unbestimmte Zeit verschoben. Sie sollen erst dann eröffnet werden, "wenn es einen Konsens über die Haftbedingungen gibt". Der Minister forderte die Gefangenen auf, ihren Hungerstreik abzubrechen. Auch der Vorsitzende der türkischen Menschenrechtsvereinigung, Hüsnü Öndül, appellierte an die Häftlinge, ihre Aktion zu beenden. Am Sonntag war zunächst aber noch unklar, ob die Gefangenen, die ausnahmslos linksextremen Organisationen angehören, darauf eingehen werden. Mindestens drei von ihnen waren in kritischem Zustand. Viele sind erblindet und so geschwächt, dass sie nicht mehr gehen können. Vor den Haftanstalten fuhren am Sonntag Krankenwagen auf, um bei einem Ende des Hungerstreiks die Gefangenen schnell in Kliniken bringen zu können. Zuvor hatte das Parlament in Ankara am späten Freitagabend eine Amnestie beschlossen, mit der alle Haftstrafen um zehn Jahre verkürzt werden. Verhängte Todesstrafen werden in lebenslange Haft umgewandelt. Rund jeder zweite der 72 000 Häftlinge in den türkischen Gefängnissen könnte von der Amnestie profitieren. Die meisten "politischen" Gefangenen jedoch sollen nicht vorzeitig freikommen. Staatspräsident Ahmet Necdet Sezer muss das vom Parlament mit 297 zu 72 Stimmen gebilligte Gesetz allerdings erst noch unterschreiben. Die Zustimmung des Verfassungsrechtlers Sezer gilt aber keineswegs als sicher. Sein Amtsvorgänger Süleyman Demirel hatte vergangenes Jahr einem ähnlichen Gesetz seine Unterschrift verweigert, weil die damaligen Pläne in der türkischen Öffentlichkeit einen Proteststurm ausgelöst hatten. Auch diesmal ist die Amnestie umstritten. Mit der Erlassung der Strafen hofft die Regierung, die Haftbedingungen in den total überfüllten türkischen Gefängnissen zu verbessern. Die Aussicht, dass nun tausende Inhaftierte freikommen, sorgt allerdings in der Öffentlichkeit für Unbehagen. "35 000 Mörder, Diebe und Räuber werden freigelassen, die Einwohnerzahl einer ganzen Stadt", empörte sich ein Kommentator in der Zeitung Hürriyet. Nicht vorzeitig entlassen werden dagegen Gefangene, die wegen Vergewaltigung, Korruption, Geldwäsche, Drogenhandel und "Verbrechen gegen den Staat" verurteilt wurden. Damit bleiben die meisten der etwa 10 000 Häftlinge, die wegen politisch motivierter Vergehen einsitzen, von der Amnestie ausgenommen, unter ihnen der wegen Hochverrats zum Tode verurteilte PKK-Chef Abdullah Öcalan. |