Tagblatt (CH), 11.12.2000 Hungerstreik und Amnestie Hunderte türkische Gefangene fasten sich zu Tode gegen Reformen im Strafvollzug Seit 50 Tagen befinden sich mehrere hundert Gefangene in türkischen Gefängnissen im Hungerstreik. Die vorwiegend politischen Gefangenen, die in grossen Gemeinschaftszellen untergebracht sind, befürchten, die vorgesehenen Reformen im Strafvollzug führten zu vermehrter Überwachung. Die türkische Regierung hat nun die umstrittene Verlegung von Gefangenen in kleinere Zellen auf unbestimmte Zeit verschoben. Die Regierung in Ankara erwägt zudem, die Häftlinge, die meist linksgerichteten Gruppen angehören, in eine am Freitag vom Parlament beschlossene Amnestieregelung aufzunehmen. Todesfälle jederzeit möglich Der Zustand der hungerstreikenden türkischen Gefangenen hat sich dramatisch zugespitzt. Einige der über 200 Gefangenen beginnen, die Fähigkeit zu sehen, zu hören und zu riechen zu verlieren, und leiden an inneren Blutungen. Der stellvertretende Vorsitzende der Türkischen Ärztevereinigung, Metin Bakkalci, befürchtet, dass jederzeit Todesfälle eintreten könnten. Zur gleichen Zeit hat die Regierung ein umstrittenes Amnestiegesetz in Windeseile durch das Parlament gepeitscht. Während linke Gefangene im Hungerstreik sind, sieht das Amnestie-Gesetz Strafnachlässe vor für rechtsextreme, islamistische Gefangene und für Straftäter aus der mit dem rechtsextremen Milieu verbundenen türkischen Mafia. So kann die Gefängnisstrafe für einen mehrfachen Mörder von 20 auf zehn Jahre gesenkt werden. Zu den Profiteuren der Amnestie dürfte auch der Papst-Attentäter Ali Agca gehören, der nach seiner Entlassung in Italien noch Strafen wegen Taten in der Türkei absitzen muss. Linke politische Gefangene sind meist wegen Vergehen wie Widerstand gegen die staatliche Ordnung oder Hochverrat verurteilt worden. Diese fallen nicht unter die Amnestie. Gesinnungsgenossen befreien Hinter der Ausgestaltung der Amnestie steht vor allem der Wunsch des rechtslastigen Koalitionspartners MHP, dem es um die Befreiung von Gesinnungsgenossen geht. Ein Versuch der MHP, in letzter Minute auch eine Strafreduzierung für Folterer durchzusetzen, scheiterte allerdings an einer Rücktrittsdrohung des Justizministers Hikmet Sami Türk von Bülent Ecevits Demokratischer Linkspartei (DSP). Entgegen anderen Verlautbarungen von Politikern wird von der Amnestie auch eine Reihe Geschäftsleute profitieren, die in betrügerische Bankgeschäfte verwickelt sind. Bankenskandale hatten in den letzten Tagen das Land nahe an den finanziellen Zusammenbruch gebracht. Er konnte nur mit Hilfe einer 10,4 Milliarden Dollarspritze des Internationalen Währungsfonds abgewendet werden. Auch Kurden im Hungerstreik Die unpopuläre Amnestie, für die Demoskopen lediglich eine Zustimmung von 23 Prozent ermittelten, stärkt in der Öffentlichkeit den hungerstreikenden Häftlingen den Rücken. Ausserdem haben sich den Hungerstreikenden aus drei linken türkischen Organisationen mittlerweile auch Häftlinge aus der PKK und drei anderen kurdischen Organisationen mit befristeten und unbefristeten Hungerstreiks angeschlossen. Damit hat sich der Hungerstreik auf 20 Gefängnisse im ganzen Land ausgedehnt. Auch die ehemaligen Parlamentsabgeordneten der mittlerweile verbotenen prokurdischen Demokratischen Arbeiterpartei (DEP) Leyla Zana, Hatip Dicle, Orhan Dogan und Selim Sadak haben sich dem Hungerstreik «ohne zeitliche Befristung und Umkehr» angeschlossen. Sie waren 1994 trotz internationaler Proteste wegen PKK-Kontakten zu bis zu 15 Jahren Gefängnis verurteilt worden. Strafvollzug reformieren Im Kern geht es bei dem Hungerstreik um eine seit vielen Jahren geplante
Reform des Strafvollzugs in der Türkei, der vor allem den Übergang
von Gemeinschaftszellen zu Zellen für einen bis drei Häftlinge
und die Videoüberwachung der Zellen vorsieht. Vor allem die linksgerichteten
politischen Gefangenen befürchten, sie wären dann der Willkür
der Aufseher vermehrt ausgesetzt. Ausserdem fordern die Häftlinge
u. a. die Bestrafung der Schuldigen für den Tod von zehn Häftlingen
im Gefängnis Ulucanlar in Ankara. Justizminister Hikmet Sami Türk,
der nicht den Ruf eines Hardliners hat, versucht den Tod von Häftlingen
durch Verhandlungen zu vermeiden. Aber auch er ist nicht bereit, von der
Reform in grundsätzlichen Punkten abzurücken. Eine ähnliche
Konfrontation zwischen Hungerstreikenden und dem Staat hatte 1996 erst
nach dem Tod von zwölf Häftlingen geendet. |