Neue Zürcher Zeitung, 12. Dezember 2000 Verzweifelter Kampf türkischer Häftlinge Hungerstreik trotz Kompromissen Ankaras fortgesetzt Der Gesundheitszustand der sich im Hungerstreik befindenden rund 200 türkischen politischen Häftlinge hat sich verschlechtert. Als Geste der Versöhnung versprach die Regierung, die Eröffnung neuer Hochsicherheitsgefängnisse auf unbestimmte Zeit zu verschieben. Die Häftlinge fordern aber die Reform des gesamten Strafvollzugs. it. Istanbul, 11. Dezember Während der letzten Tage hat sich der Gesundheitszustand der hungerstreikenden Gefangenen in der Türkei deutlich verschlechtert. Einen ersten Schritt der Versöhnung in dem Konflikt zwischen dem Justizminister und den politischen Häftlingen hat der türkische Regierungschef Ecevit gemacht. 250 junge Menschen befänden sich inLebensgefahr, sagte er und forderte alle Beteiligten dazu auf, diesen Protest möglichst rasch zu beenden. Am vergangenen Wochenende hat der Justizminister Türk die Eröffnung der neuen Gefängnisse vom Typ F, gegen die sich die Häftlinge mit ihrer Aktion wehren, auf unbestimmte Zeit verschoben. Niemand sollte sein Leben aufs Spiel setzen oder bleibende Gesundheitsschäden erleiden, erklärte er der Presse. Die Regierung wollte deshalb, das Projekt der neuen Gefängnisse noch einmal in Erwägung ziehen. Eine der Hauptforderungen der Hungerstreikenden in den Gefängnissen schien damit erfüllt zu sein. Unbefristetes Todesfasten Der Hungerstreik war am 20. Oktober im Gefängnis der zentralanatolischen Stadt Aydin von Mitgliedern einiger linksradikaler Organisationen aus Protest gegen das von Justizminister Türk geförderte Projekt der Gefängnisse vom Typ F ausgerufen worden. Die Aktion griff auf 18 Gefängnisse im ganzen Land über, bis zuletzt über 800Häftlinge sich daran beteiligten. Der Massenprotest kam für die Regierung nicht unerwartet undbewies, dass die Führung radikaler Organisationen ihre Mitglieder auch innerhalb der Gefängnismauern weitgehend unter Kontrolle haltenkönnen. Die Grosszellen der überalterten türkischen Haftanstalten, in denen bis zu 100 Personen zusammengepfercht leben, leisten der Politisierung der Häftlinge zweifellos Vorschub. Die Massenaktion zeigte auch, wie wenig diese Aussenseiter der türkischen Gesellschaft dem Staatvertrauen. Obwohl die neuen Anstalten aus vergleichsweise modernen Zellen für eine bis drei Personen bestehen, werden sie von den politischen Gefangenen, ungeachtet ihrer ideologischen Ausrichtung, abgelehnt. Die Angst sitzt tief, dass die Häftlinge in den Einzelzellen Opfer von Folterungen ohne Zeugen werden könnten; völlig unbegründet ist diese Befürchtung nicht.Folter ist laut den Berichten von Amnesty International in den türkischen Gefängnissen weit verbreitet. Der Gesundheitszustand der hungerstreikenden Häftlinge hat sich seit Ende letzter Woche dramatisch verschlechtert. Mehrere von ihnen haben laut medizinischen Berichten bereits bis zu 25 Kilogramm an Gewicht verloren, andere mussten Blut erbrechen, litten an Haarausfall, am Verlust des Sehvermögens und an Nierenproblemen.Nun könne es in jedem Moment Tote geben, erklärte Metin Bakkalci von der Türkischen Ärztevereinigung der Tageszeitung ?Radikal?. Die Ereignisse in den Gefängnissen alarmierten zahlreiche Künstler und zivile Organisationen. Am Samstag haben prominente Schriftsteller, wie Yasar Kemal und Orhan Pamuk, die Häftlinge besucht. In Istanbul demonstrierten Hunderte von Personen gegen die Reform des Justizministers, 200 von ihnen wurden von der Polizei festgenommen. Eine Kundgebung in Ankara, an der sich mehr als 1000 Personen beteiligten, verlief ohne Zwischenfälle. In Adana demonstrierten am Sonntag über 5000 Personen für die Häftlinge. Kraftprobe für Ecevit Allmählich entwickelt sich der Hungerstreik für die Regierung Ecevit zu einer Kraftprobe. Die Häftlinge fordern Reformen des Strafvollzugssystems, wenn ihre Aktion abgebrochen werden sollte, und wollen, dass Folterer bestraft werden. Weiter wird die Abschaffung der Staatssicherheitsgerichte verlangt und die Streichung von Artikel 16 des Antiterrorgesetzes. Dieses Gesetz wurde 1991 erlassen, als im kurdischen Südosten noch ein blutiger Konflikt zwischen den türkischen Sicherheitskräften und der Kurdischen Arbeiterpartei im Gang war. Artikel 16 sieht den Bau von neuen Gefängnissen vor, die vor allem aus Einzelzellen bestehen. Dort sollten Häftlinge, denen ?Verbrechen gegen den Staat? vorgeworfen werden, in völliger Isolation leben. Laut Angaben des Vorsitzenden der Istanbuler Anwaltskammer, Yücel Sayman, musste die Regierung1991 wegen heftiger Reaktionen der Öffentlichkeit den Bau der neuen Gefängnisse verschieben.Das Projekt war 1996 aber erneut auf der Tagesordnung, was einen Hungerstreik von Häftlingen auslöste. Damals kamen 12 jungen Gefangene um. Sayman fordert nun die Abschaffung von Artikel 16, bevor es neue Tote in den Gefängnissen gibt. In der Regierung gibt es aber diesbezüglich eine Verhärtung. Die Initiatoren dieser Proteste versuchten dem Staat ihren Willen aufzuzwingen, sagte am Montag der Regierungschef. Dies sei absolut inakzeptabel.
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