Neue Luzerner Zeitung, 13.12.2000

Türkei: Verfassungsgericht eröffnet Verfahren gegen Islamisten

Richter zwischen Militär und Demokratie

Egal, ob das Verfassungsgericht im Sinn der Generäle oder gegen sie entscheidet ­ der Türkei steht eine Zerreissprobe bevor. Sie seien wie ?Vampire?, die durch das Land zögen und die Seele politisch ignoranter Menschen verschlängen. Mit solchen Worten begründet der höchste Ankläger, Vural Savas, seinen seit Jahren verfolgten Antrag auf Verbot der islamistischen Tugendpartei. Das Verfassungsgericht in Ankara begann gestern mit dem voll Spannung erwarteten, immer wieder verschobenen Verfahren, das sich mehrere Wochen hinziehen dürfte.

Gewichtige politische Kraft

Mit 103 Abgeordneten im 550-köpfigen Parlament und 16 Prozent der Wählerstimmen ist die Tugendpartei die grösste Oppositionsgruppierung der Türkei. Ein Verbot würde unweigerlich die Beziehungen Ankaras zur Europäischen Union erneut belasten, die unter anderm auf echter Demokratisierung der Atatürk´schen Republik beharrt ­ sonst werden die eigentlichen Verhandlungen zum EU-Beitritt gar nicht erst aufgenommen.

Aber auch in der Türkei selbst haben sich in jüngster Zeit die Stimmen demokratisch gesinnter Menschen und Politiker gemehrt, die das Verbot einer durch freie Wahlen gestärkten Partei als Widerspruch zu den Grundsätzen westlicher Demokratie erachten.

Vural begründet seine Forderung nach Verbot der Islamisten mit dem Argument, dass die Tugendpartei 1998 auf illegale Weise als direkte Nachfolgerin der Wohlfahrtspartei (Refah) des ehemaligen Premierministers Erbakan gegründet worden sei. Die Refah-Partei war damals durch das Verfassungsgericht verboten worden. Das Gericht hatte sie der Absicht für schuldig befunden, den säkularen Staat Atatürks durch eine islamische Republik ersetzen zu wollen. Derselbe Vorwurf richtet sich nun gegen die Tugendpartei.

Betont gemässigt

Diese wehrt sich heftig gegen die Vorwürfe und bekräftigt entschieden ihre Absicht, im Zentrum des politischen Spektrums einen wichtigen Platz einzunehmen. Tatsächlich haben sich die führenden islamistischen Politiker in jüngster Zeit durch betonte Mässigung ausgezeichnet. Ein Verbot der Türkei würde nicht nur erneut die Beziehungen Ankaras zur EU belasten, sondern könnte auch schwere innenpolitische Turbulenzen nach einer zweijährigen Phase erstaunlicher interner Stabilität auslösen. Würden die islamistischen Abgeordneten nach einer Parteisperre auch aus dem Parlament verbannt, dann drohten der Türkei Neuwahlen.

Ein solches Szenario könnte das von der Koalitionsregierung Ecevit derzeit energisch durchgesetzte, im Volk freilich wegen seiner sozialen Härten unpopuläre wirtschaftliche Reformprogramm ernsthaft gefährden. Anfang Januar hatte der Internationale Währungsfonds dieses Sanierungspaket durch einen Beistandskredit von 12,75 Milliarden Franken abgestützt. Lehnt das Gericht die Schliessung der Tugendpartei ab, dann richtet es sich direkt gegen die Absichten der mächtigen Militärs, die als Hüter des Atatürk´schen Erbes im Islamismus die grösste Gefahr für die säkulare Republik sehen. Auch in diesem Fall dürften der Türkei wachsende interne Spannungen nicht erspart bleiben.

BIRGIT CERHA, NIKOSIA