junge Welt 13.12.2000

Interview

Welche Chancen hat Demokratie in Palästina?

jW sprach mit Ziad Abu Amr, Mitglied des Legislativrates der PLO und Vorsitzender ihres politischen Ausschusses

F: Am Freitag jährte sich zum 13. Mal der Beginn der ersten Intifada. Der Fatah-Vetreter und Leiter der palästinensischen Milizen, Marwan Barghouti, hatte zu den »Tagen des Zorns« aufgerufen. Gleichzeitig verweigern die Israelis Palästinensern ohne israelischen Ausweis am zweiten Freitag des Fastenmonats Ramadan den Zutritt zur Al-Aksa-Moschee. Wie explosiv ist diese Situation?

Der erwähnte Jahrestag ist im Bewußtsein der Palästinenser sehr präsent. Palästina ist ein Intifada-Staat. Es wird einen Aufstand nach dem anderen geben, also verschiedene Intifadas, solange, bis die Besatzungsherrschaft der Israelis in Palästina beendet wird. Intifada ist der Krieg der Palästinenser gegen die Unterdrückung, weil sie noch nicht unabhängig sind. Deshalb ist es klar, daß die Palästinenser weiter für ihre Freiheit kämpfen werden - bis zu ihrer Unabhängigkeit. Mir ist kaum eine Volksgruppe bekannt, die im 21. Jahrhundert noch immer unter einer solchen Besatzung steht, wie die Palästinenser.

Ich glaube nicht, daß die momentane Situation außer Kontrolle geraten wird, aber sie kann sich zuspitzen. Der Aufstand könnte sich in die anderen Nachbarstaaten ausbreiten. Wenn die Israelis mit ihrer Besatzungspolitik und der Unterdrückung der Palästinenser fortfahren und uns daran hindern ein normales Leben zu führen, dann ist das der Schlüssel für die Eskalation des Konfliktes.

F: Gibt es einen Unterschied zwischen der ersten Intifada und den momentanen Auseinandersetzungen?

Der Aufstand gegen die Besatzer steht in einer Linie mit der ersten Intifada, weil die Israelis ihre Besatzungspolitik fortführen. Und kann Ihnen versichern, daß es auch weiterhin Intifadas geben wird, wenn Israel nicht mit seiner Besatzungspolitik aufhört. Der Unterschied zwischen den Aufständen ist, daß die Angriffe der Israelis eindeutig zugenommen haben und schwere Waffen benutzt wurden. Die Angriffe auf die Autonomiegebiete werden mit Kampfflugzeugen, Panzern, Boden-Boden-Raketen und Kriegsschiffen durchgeführt. Ein weiterer Unterschied ist auch, daß bereits ein Friedensabkommen zwischen Israelis und Palästinensern unterzeichnet wurde. Dieses Papier konnte aber die israelische Aggression nicht stoppen.

F: Unter welchen Umständen würden Sie sich einem Friedensprozeß wieder öffnen?

Als erstes muß analysiert werden, warum der Friedensprozeß nicht wie gewünscht verlaufen ist und scheiterte. Meines Erachtens ist das Scheitern auf den mangelnden Willen der Israelis zurückzuführen, sich aus den Gebieten, die sie 1967 besetzt haben, zurückzuziehen. Mit diesen Besetzungen wurden den Palästinensern das Recht auf einen unabhängigen palästinensischen Staat und auf Selbstbestimmung genommen. Israel muß sich dazu durchringen, die Okkupation zu beenden. Erst nach diesem Schritt können die Verhandlungen wieder aufgenommen werden.

F: Sie haben am vergangenen Freitag in Berlin an einem internationalen Kongreß über die Zukunft eines palästinensischen Staates teilgenommen. Wie weit geht die deutsche Unterstützung für die Palästinenser?

Ich denke, daß die Wahrheit über den Konflikt in Deutschland bekannt ist. Unglücklicherweise bestehen aber gleichzeitig Hemmungen bei den Deutschen, aufgrund ihrer Geschichte, also des Holocaust, diese Meinung zu äußern. Die Sympathien mit den Palästinensern und mit ihrem Kampf für die Unabhängigkeit sind aber vorhanden. Wir fordern von den Deutschen und den Europäern ein mutigeres Eingreifen, weil wir denken, daß Deutschland eine große Verantwortung gegenüber den Palästinensern trägt. Wir sind die Opfer einer Geschichte, die nicht die unsere ist. Die Deutschen haben sich unmenschlich gegenüber den Juden verhalten, jetzt verhalten sich israelische Juden unmenschlich gegenüber den Palästinensern, sie vertrieben uns aus unserem Land und verursachten dadurch unsägliches Leid. Deutschland und Europa haben auch dem palästinensischen Volk gegenüber eine Verantwortung - nicht nur gegenüber den Juden.

F: Ein Hauptkritikpunkt Europas an der Politik der palästinensischen Autonomiebehörde ist ein Mangel an demokratischen Prinzipien.

Diese Autonomiebehörde ist eine neue Behörde. Es ist schwierig, demokratische Arbeit durchzusetzen, wenn man unter einer militärischen Besatzung steht. Die palästinensische Autonomiebehörde ist keine unabhängige palästinensische Regierung, und auch wenn sie eine wäre, müßte eine Demokratie erst wachsen. Bedenken Sie, wie die Demokratie in Europa eingeführt wurde. Demokratie wuchs nicht automatisch mit der Etablierung der europäischen Staaten.

Trotz alledem sehen wir ein undemokratisches Verhalten innerhalb unserer Regierung sehr kritisch. Wir werden unseren Kampf weiterführen, um sicherzugehen, daß demokratische Prinzipien respektiert werden und nicht erst an der Grenze zu anderen Staaten beginnen. Aber diese ganze Diskussion bleibt unrealistisch, solange die israelische Besatzung andauert. Unter einer militärischen Besatzung kann man schlecht über Demokratie reden.

Interview: Mey Dudin