Die Welt online 13.12.2000 Jacques Chirac muss seine Niederlage in Nizza verteidigen Frankreichs Staatspräsident wird im EU-Parlament kühl empfangen - Und zu Hause rüstet sich die Linke gegen ihn Gipfel-Thesen Paris/Brüssel - Der Empfang für Frankreichs Staatspräsident
Jacques Chirac im Europaparlament in Straßburg fiel kühl aus.
Der Beifall blieb spärlich nach dessen Rede zu den Ergebnissen des
Nizza-Gipfels. Und an Kritik mangelte es anschließend auch nicht.
Kommissionspräsident Romano Prodi dagegen, der sich immer für
ein ehrgeiziges Reform-Vorhaben ausgesprochern hatte, wurde in Straßburg
mit donnerndem Beifall empfangen. Ein seltenes Erlebnis für den Italiener
an der Spitze der Kommission. Doch bei dieser Einschätzung wollte ihm viele Abgeordnete nicht folgen. "Das ist kein großer Vertrag", sagte der Chef der EVP-Fraktion, Hans-Gert Pöttering. Es gebe Licht und Schatten, aber eindeutig mehr Schatten. Insgesamt fand das Gipfelergebnis in Straßburg kaum positive Resonanz. Die herbe Kritik, die Chirac in Straßburg erntete, war nur ein Vorgeschmack darauf, was ihn im eigenen Land erwartet. Selbst wenn es dem Präsidenten nach Auffassung der französischen Medien auf dem EU-Gipfel von Nizza weitgehend gelungen ist, nationale Interessen zu verteidigen, werden ihm in Frankreich keine Siegerkränze für den Staatschef geflochten. Mit seiner Bulldozer-Taktik habe Jacques Chirac viele Länder, insbesondere Polen, Belgien und Litauen, verprellt, Frankreich isoliert und die Stärkung der Stellung Deutschlands in Europa dennoch nicht verhindern können, brachte die linksliberale Tageszeitung "Libération" die vorherrschende Meinung auf den Punkt. Der Präsident zahle damit die Rechnung für frühere EU-Gipfel, auf denen er brutal seinen Vorteil auf Kosten Gesamteuropas gesucht und erzwungen hat. Das Ergebnis von Nizza sei entschieden zu mager, um von Chirac als zugkräftiges Argument für den schon begonnenen Präsidentschaftswahlkampf ausgebeutet werden zu können, hieß es weiter. Ebenso wenig eigne sich Nizza dafür, um von den zahlreichen Affären abzulenken, in die ehemalige enge Mitarbeiter von Chirac verstrickt seien. Der Präsident selbst wird nur noch durch sein Amt von juristischen Nachstellungen geschützt. Inzwischen wächst der Druck auf ihn, sich endlich öffentlich zu den massiven Vorwürfen zu äußern. Einen Tag nach Nizza hat die französische Linke ihre europapolitische Zurückhaltung aufgegeben. Noch auf dem sozialistischen Parteitag vor zwei Wochen hatte sich Premierminister Lionel Jospin nur vage geäußert, um die französische Verhandlungsführung, an der er in Nizza neben Chirac aktiv beteiligt war, nicht zu torpedieren. Jetzt aber hat der Erste Sekretär der Sozialistischen Partei, François Hollande, die Katze aus dem Sack gelassen. Ohne den geringsten Versuch, den Kompromiss von Nizza zu verteidigen, kündigte er eine scharfe Wende seiner Partei in der Europapolitik an. Hollande, ein enger Vertrauter von Jospin, sprach sich für ein "Europa der Avantgarde" aus, in dem sich "einige Länder auf einer föderalen Basis" zusammenschließen sollten. Eine wichtige Voraussetzung dafür wurde in Nizza mit der erleichterten Zusammenarbeit einer Kerngruppe von mindestens acht Mitgliedstaaten geschaffen, die aber für andere immer offen stehen und auch den Segen der EU-Kommission haben muss. Als praktikablen Weg schlägt Hollande die Ausarbeitung einer europäischen Verfassung vor. Auch dafür wurde in Nizza mit der Proklamierung der Grundrechtscharta ein Anfang gemacht. Man müsse endlich "mit mehr Ehrgeiz" an das europäische Einigungswerk herangehen, ist Hollande überzeugt. Wenn man "zusammen viel weiter gehen" wolle, könne dies "aber nicht mit 15 Staaten, nicht mit 27, sondern vielleicht mit sechs, sieben, acht Staaten" funktionieren, die sich "auf einer föderalen Grundlage" zusammenschließen. In den nächsten Tagen wird erwartet, dass auch Jospin, der Chirac im Präsidentenamt ablösen möchte, öffentlich seine Vorstellungen zu Europa bekannt gibt. Genau dies hatte er vor Nizza angekündigt. Zehn Gründe, warum Nizza viel zu früh zu Ende ging: 1. Weil den Franzosen nicht genug Zeit blieb, 23 Millionen Kinder in die Welt zu setzen, um so groß wie Deutschland zu werden. 2. Weil Harald Schmidt von Joschka Fischer noch viel hätte lernen können. 3. Weil 3000 Journalisten jetzt wieder im Schlemmertempel Kantine subventioniertes Fertigessen in sich reinschaufeln müssen. Mit kostenlosen Menüs ist Schluss. 4. Weil, wer nur fünf Tage im Ausnahmezustand lebt, am Ende nur so was Langweiliges wie "erweiterungsfähig" ist. Schafft man aber fünf Wochen, ist man Weltmacht. 5. Weil der Luxemburger Jean-Claude Juncker seine Bevölkerung vertausendfachen müsste, um die Aufmerksamkeit der letzten Tage zu bekommen. 6. Weil Paavo Lipponen, Göran Persson und Poul Nyrup Rasmussen wieder zurück nach Skandinavien müssen - und dort sind die Nächte noch länger als in Nizza. 7. Weil José María Aznar nicht genug Zeit hatte, seine komplette Wunschliste vorzutragen. Ein paar Milliarden Euro wären für Spanien schon noch drin gewesen. 8. Weil man vom Gerede über Sperrminoritäten, Kohäsionsfonds, doppelte Mehrheiten auf Anfrage, Stimmengewichtung im Ministerrat, dem Post-Nizza-Prozess und die Finalität von Europa einfach nicht genug bekommen kann. Wen interessieren noch Babs und Boris? 9. Zwei Tage länger, und der Balkan, die Schweiz und die Türkei wären auch noch in der EU. Und beim bürgerkriegsähnlichen Rütlischwur am Bosporus hätte man die Grenzen Europas ausdiskutieren können. 10. Weil man normalerweise erst nach einer Woche aus dem Container fliegt. ped
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