Der Bund (CH), 14.12.2000 Erneut sind die Islamisten im Visier TÜRKEI / Vor dem Verfassungsgericht in Ankara hat das Verfahren gegen die fundamentalistische Tugendpartei begonnen. Der Nachfolgerin der vor zwei Jahren verbotenen Wohlfahrtspartei des einstigen Regierungschefs Erbakan droht das gleiche Schicksal. Ein Verbot könnte die Türkei in innenpolitische Turbulenzen stürzen. BIRGIT CERHA, NIKOSIA Sie seien wie "Vampire", die durch das Land zögen und die Seele politisch ungebildeter Menschen verschlängen. Mit solchen Worten begründet der höchste türkische Ankläger, Vural Savas, seinen seit langem verfolgten Antrag, die islamistische Tugendpartei (Fazilet) zu verbieten. Das vor dem Verfassungsgericht in Ankara begonnene Verfahren dürfte sich mehrere Wochen hinziehen. Grösste Oppositionspartei Mit 103 Abgeordneten im 550 Mitglieder umfassenden Parlament und 16 Prozent der Wählerstimmen ist die Tugendpartei die grösste Oppositionsgruppierung des Landes. Ein Verbot belastete unweigerlich die Beziehungen Ankaras zur Europäischen Union (EU) weiter, die u. a. auf echter Demokratisierung als Vorbedingung zum Beginn von Aufnahmeverhandlungen beharrt. Aber auch in der Türkei selber haben sich in jüngster Zeit die Stimmen demokratisch gesinnter Menschen und Politiker gemehrt, die das Verbot einer durch freie Wahlen gestärkten Partei als Widerspruch zu den Grundsätzen westlicher Demokratie erachten. Staatsanwalt Vural begründet seine Forderung nach dem Verbot der Islamisten mit dem Argument, die Tugendpartei sei 1998 auf illegale Weise als direkte Nachfolgerin der damals durch das Verfassungsgericht verbotenen Wohlfahrtspartei (Refah) des ehemaligen Premierministers Erbakan gegründet worden. Das Gericht hatte die Wohlfahrtspartei für schuldig befunden, sie beabsichtige den säkularen Staat Atatürks durch eine islamische Republik zu ersetzen. Den gleichen Vorwurf richtet das Gericht nun gegen die Tugendpartei. Diese wehrt sich heftig gegen die Vorwürfe und bekräftigt ihre Absicht, im Zentrum des politischen Spektrums einen wichtigen Platz einzunehmen. Tatsächlich haben sich die führenden islamistischen Politiker in jüngster Zeit durch Mässigung ausgezeichnet. Ein Verbot der Tugendpartei belastete nicht nur die Beziehungen zu Brüssel, es könnte auch schwere innenpolitische Turbulenzen nach einer zweijährigen Phase erstaunlicher Stabilität auslösen. Würden die islamistischen Abgeordneten nach dem Verbot auch aus dem Parlament verbannt, dann drohen Neuwahlen. Koalitionsfriede gefährdet Ein solches Szenario könnte das von der Koalitionsregierung Ecevit derzeit energisch durchgesetzte, im Volk freilich wegen seiner sozialen Härten unpopuläre wirtschaftliche Reformprogramm gefährden. Der Internationale Währungsfonds (IWF) hat dieses Sanierungspaket mit einem Beistandskredit von 7,5 Milliarden Dollar abgestützt. Entscheidet sich das Gericht jedoch zugunsten der Tugendpartei, dann richtet es sich direkt gegen die Absichten der mächtigen Armeeführung. Sie versteht sich als Hüterin des Erbes von Staatsgründer Atatürk und sieht im Islamismus die grösste Gefahr für die säkulare Republik - wie ebenfalls in der Kurdenfrage, wie die zurzeit hitzig geführte Debatte über die Zulassung kurdischer Radio- und Fernsehstationen (vgl. unten) erneut zeigt. Streit um Kurdensender lü. Vor einem Jahr hat die EU an ihrer Gipfelkonferenz in Helsinki die Türkei zum Beitrittskandidaten ernannt und die so genannten Kopenhager Kriterien als Voraussetzung für die Aufnahme in die Union festgelegt. Zu diesen Kriterien gehören u. a.: Reform der türkischen Gesetzgebung, damit auch in der Türkei die Meinungsfreiheit garantiert würde; dem kurdischen Volksteil sollten Minderheitenrechte eingeräumt werden - nicht zuletzt das Recht, kurdische Radio- und Fernsehprogramme zu produzieren und zu empfangen. Bisher sind all diese Reformen auf dem Papier geblieben. Machtwort der Armee Kurz nachdem die EU-Kommission im letzten Monat ihren Bericht zur Lage in der Türkei (der Ausdruck "Kurden" wurde tunlichst vermieden) veröffentlicht hatte, brach in Ankara der Streit über die Zulassung kurdischer TV-Sender offen aus. Im Lauf der letzten Wochen wurden zahlreiche Radio- und Fernsehstationen mit Sendeverboten belegt. Diese haben zwar mit der harten Diskussion über die umstrittene Zulassung kurdischer Sender mitunter keinen direkten Zusammenhang. Aber Sendungen, die sich mit der Kurdenfrage, der verbotenen Arbeiterpartei Kurdistans (PKK) oder mit deren zum Tod verurteilten Chef Abdullah Öcalan befassen, sind Grund genug, die Stationen zu verbieten: Der Grundtenor der türkischen Medienpolitik ist nach wie vor strikt antikurdisch. Anfang dieser Woche hat sich nun ebenfalls der Generalstab der allmächtigen Armee in die Debatte über die Zulassung von Radio- und Fernsehstationen in kurdischer Sprache zu Wort gemeldet: Entgegen den Forderungen der EU hat er sich strikt dagegen ausgesprochen. Kurdischsprachige Fernseh- und Radiosendungen oder mehr Rechte für die Minderheit in andern kulturellen Bereichen (Schulunterricht etwa) betrachtet der Generalstab als "Propagandawerkzeuge der PKK". Mit seinem Verdikt brüskiert der Generalstab nicht nur Brüssel, sondern auch zwei Parteien der Dreier-Koalition von Regierungschef Ecevit. Zugleich stärkt er die bisherige Haltung der rechtsextremen Nationalistischen Aktionspartei (MHP). Sie ist vehement gegen Konzessionen zugunsten der kurdischen Minderheit. Ihr Argument: Solche spalteten die Bevölkerung in ethnische Gruppen und gefährdeten die Einheit der Nation. Risse in der Koalition Der Chef der konservativen Mutterlandspartei (Anap), der ehemalige Premier Yilmaz, ist indessen anderer Meinung: Durch Reformen zugunsten der Kurden würde die Republik nicht geschwächt. Die Anap ist die kleinste, die MHP die zweitgrösste Koalitionspartei in der Regierung Ecevit, der sich selber vor kurzem für Konzessionen zugunsten der kurdischen Minderheit ausgesprochen hatte - wie übrigens auch der Chef des Geheimdienstes.
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