Bremer Nachrichten, 15.12.2000 Polizisten fordern Staat heraus Türkische Sicherheitskräfte zornig über geplante Amnestie Von unserer Korrespondentin Susanne Güsten Istanbul. Hasan Yücesan stellte sich den Demonstranten entgegen, aber er hatte keine Chance. Als der Polizeichef der westtürkischen Großstadt Izmir am Mittwochmorgen seine Wagenkolonne quer über eine Durchgangsstraße stellte, um rund 900 Teilnehmer eines illegalen Protestzuges aufzuhalten, musste er mitansehen, wie die wütenden Demonstranten auf seinen Dienstwagen einschlugen und einfach weiter marschierten. Viel ausrichten konnte Yücesan nicht - die Demonstranten waren allesamt seine eigenen Polizisten. Diese Art von Machtlosigkeit der zivilen Behörden über die Sicherheitskräfte verstärkt in der Türkei das um sich greifende Gefühl, dass das Land auf eine Staatskrise zutreibt. Überall in der Türkei gehen derzeit die Polizisten auf die Straße. Angefangen hatten die Aktionen mit einem Protestzug von 4000 Beamten am Dienstag in Istanbul, die gegen die Ermordung von zwei Kollegen durch mutmaßliche Linksextremisten protestierten. Ihre Dienstwaffen über den Köpfen schwenkend, zogen die Istanbuler Polizisten drohend durch die Stadt - weder Polizeichef noch Gouverneur konnten sie aufhalten. Die Beamten machten dabei ihrer Wut über die Amnestie-Pläne der Regierung in Ankara Luft: Danach sollen zwar zahlreiche Gewalttäter auf freien Fuß kommen, doch Polizisten, die wegen der Folter und Misshandlung verurteilt wurden, bleiben hinter Gittern. Wie vergiftet das Klima ist, zeigte sich bei einem Polizeieinsatz in Ankara gegen linksgerichtete Anhänger des seit Wochen andauernden Hungerstreiks in den Gefängnissen. Da der Verdacht besteht, dass der Anschlag auf die beiden Istanbuler Polizisten von Sympathisanten der hungerstreikenden Häftlinge verübt wurde, gingen die Sicherheitskräfte in Ankara besonders rücksichtslos gegen diese Demonstranten vor. Schüsse fielen, Steine flogen; einige Polizisten verbündeten sich sogar mit rechtsradikalen Gegendemonstranten - solche Szenen erlebte die Türkei zuletzt kurz vor dem Militärputsch von 1980. "Die Staatskrise ist da", kommentierte die liberale Zeitung "Milliyet". Denn Ankara wird nicht nur von der eigenen Polizei herausgefordert, sondern auch von den Hungerstreikenden, die ihre Protestaktion gegen eine geplante Gefängnisreform inzwischen als Machtprobe mit der Regierung verstanden wissen wollen. Mit jedem Tag wird die Lage der Hungerstreikenden bedrohlicher; wenn es Tote gibt, könnten die Spannungen leicht in Gewalt umschlagen, wie die Demonstration in Ankara bereits zeigte. Im obrigkeitsstaatlichen Reflex warnte die staatliche Rundfunkaufsichtsbehörde die Medien inzwischen vor einer allzu ausführlichen Berichterstattung über die Hungerstreiks. In dieser Situation bietet die Regierung in Ankara kein überzeugendes Bild. Statt mit ihrer großen Mehrheit im Parlament Reformen zur Stärkung der Menschenrechte und des Rechtsstaats durchzusetzen, ist die Dreier-Koalition aus Linksnationalisten, Rechten und Konservativen wegen innerer Konflikte fast gelähmt. So wurde die Vorlage eines Reformpakets zur weiteren Annäherung an die EU ins nächste Jahr verschoben, weil sich die Regierungspartner unter anderem darüber streiten, ob die Türkei - wie von der EU gefordert - kurdische Fernsehsender zulassen soll. Hinzu tritt das aus den vergangenen Jahren bekannte Gespenst der politischen Instabilität, das sogar mit vorgezogenen Neuwahlen droht. Vor dem Verfassungsgericht hat die entscheidende Phase im Verbotsprozess gegen die islamistische Tugendpartei begonnen, die mit 103 Abgeordneten stärkste Oppositionskraft im Parlament von Ankara. Sollte die Tugendpartei aufgelöst werden, könnten Neuwahlen unausweichlich werden. Dabei gilt es als ausgemacht, dass ein vorzeitiges Ende der auf eisernen Durchhaltewillen gegründeten Koalition das Land in eine neue Abwärtspirale stürzen würde. Aus der Sicht der Zeitung "Milliyet" sind die Aussichten deshalb nicht besonders rosig: "Unruhe im Land, Verunsicherung bei der Bevölkerung."
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