Salzburger Nachrichten, 15.12.2000

"Die Häftlinge können jede Stunde sterben"

In der Türkei protestieren mehr als 200 politische Gefangene mit einem Hungerstreik gegen inhumane Haftbedingungen

BIRGIT CERHA, NIKOSIA (SN).

Von Stunde zu Stunde verschlechtere sich der Gesundheitszustand, der Blutdruck falle, Gewicht und geistige Funktionen nähmen rapide ab. Mehr als 20 politische Gefangene in türkischen Haftanstalten, die nun bald 60 Tage jede Nahrungsaufnahme verweigern, leiden nach Aussagen von Ärzten an Gedächtnisschwund. "Einige von ihnen können jede Stunde sterben." Besorgte Angehörige und Freunde harren außerhalb der Gefängniswände in Angst, Trauer aus.

Künstler, Architekten, Ingenieure und zahlreiche Intellektuelle haben sich ihnen angeschlossen. Prominente Persönlichkeiten bemühen sich seit Tagen im Gespräch mit den Behörden, einen Ausweg zu finden. Für viele der protestierenden Häftlinge dürfte eine Lösung der Affäre aber ohnedies zu spät kommen. Nach Aussagen der Ärzte haben sie, selbst im besten Falle, für den Rest ihres Lebens mit unheilbaren gesundheitlichen Schäden zu kämpfen.

Die protestierenden Häftlinge - insgesamt mehr als 200, darunter viele Kurden - in zahlreichen Gefängnissen der Türkei wollen ihre Aktion erst abbrechen, wenn sie klare schriftliche Garantien der Regierung zur Erfüllung ihrer Forderungen erhalten. Denn elf politische Gefangene hatten 1996 in einer ähnlichen Aktion ihr Leben gelassen. Vergeblich, denn die Behörden hielten sich nicht an die damals gegebenen Versprechen.

Das Drama versetzt das Land in Hochspannung. In Ankara und Istanbul kam es zu Zusammenstößen zwischen demonstrierenden Familienangehörigen, Universitätsstudenten und Polizisten. Zugleich halten heftige Diskussionen um ein umfangreiches Amnestiegesetz, das eben vom Parlament verabschiedet wurde, die Öffentlichkeit im Bann. Um die explosive Situation in den total überfüllten Gefängnissen zu entspannen, will die Regierung Haftstrafen reduzieren und damit Tausende Menschen frühzeitig freilassen. Zu den Nutznießern dieser Amnestie zählen auch rechtsradikale Mörder. Politische Delinquenten bleiben freilich ausgenommen. Viele Türken hoffen nun, dass Präsident Sezer seine Unterschrift unter das neue Gesetz verweigern werde.

Niemand zweifelt, dass das Gefängnissystem, ebenso wie die Strafgesetzgebung, dringend der Reform bedarf. Insgesamt sitzen heute mehr als 72.000 Menschen in Haftanstalten teilweise unter katastrophalen Bedingungen. Die Gefängnisverwaltung ist zutiefst korrupt und weitgehend von Sympathisanten der rechtsradikalen "Nationalistischen Aktionspartei" durchsetzt, die häufig brutal gegen die kurdischen und linken politischen Gefangenen vorgehen. Anderseits genießen Mafiabosse ein Luxusdasein. Die Tageszeitung "Hürriyet" veröffentlichte jüngst Fotos von bekannten Figuren der Unterwelt, auf einem "Himmelbett" (so die Zeitung) liegend, von Teppichen umgeben und ein Mobiltelefon ans Ohr gepresst. Das Bett, so "Hürriyets" Kommentar, "gleicht dem Thron arabischer Prinzen".

Demgegenüber fristen die politischen Gefangenen ein elendes Dasein. Ihre Entschlossenheit, den Hungerstreik bis zu Ende zu führen, entspringt tiefster Verzweiflung. Sie sind überzeugt, dass die Einführung eines neuen Gefängnissystems große Gefahren berge. Die Häftlinge, die derzeit in Räumen mit bis zu hundert Menschen gehalten werden, sollen in Zellen für eine bis maximal drei Personen verlegt werden. Damit würden sie nach Ansicht auch von unabhängigen Menschenrechtsorganisationen noch mehr den Schikanen der Wärter ausgesetzt.