junge Welt Interview, 15.12.2000 Was bringt die sogenannte Amnestie in der Türkei? jW sprach mit der PDS-Bundestagsabgeordneten Ulla Jelpke, die zur Zeit in der türkischen Hauptstadt Ankara weilt F: Die Situation der politischen Gefangenen im Hungerstreik gegen die Isolationszellen in der Türkei spitzt sich zu. Jeden Tag könnte der erste Gefangene sterben. Sie befinden sich derzeit in Ankara. Wie ist die Situation? Sehr kritisch. Am 20. Oktober hatte die Aktion in 18 Gefängnissen begonnen, inzwischen befinden sich etwa 10 000 politische Gefangene im Hungerstreik. Über 200 von ihnen sind im sogenannten Todesfasten, sie nehmen weder Wasser noch feste Nahrung zu sich. Bei 26 Gefangenen soll der Gesundheitszustand bereits sehr kritisch sein. Sie fordern statt Isolationszellen bessere Haftbedingungen, die Abschaffung der Staatssicherheitsgerichte und die Verurteilung der Verantwortlichen für die Massaker an Gefangenen in den letzten Jahren. F: Man hat das Gefühl, daß die Hungerstreiks aber nicht die erwartete Wirkung erzielen. Der jetzige Kampf hat im Grunde bereits 1996 begonnen. Das gesamte System in den türkischen Knästen ist inzwischen aber so verroht und die Wärter sind dermaßen brutal, daß praktisch keiner der Gefangenen Vertrauen in die Gefängnisbeamten hat. Das bestätigten mir auch die Angehörigen und die Anwaltskammern und Anwaltsvereine in Istanbul, Izmir und Ankara. Allein im letzten Jahr gab es zwölf Tote in den Gefängnissen. Sie alle starben durch Übergriffe der Wärter. F: Eine Zuspitzung also auf beiden Seiten? Die Menschenrechtsvereine, die Zentren für Folteropfer und auch die Angehörigen sagen, daß die Gefangenen gar keine andere Chance haben, als diesen Kampf fortzusetzen, bis sie eine schriftliche Zusage der Regierung zu ihren Forderungen haben. Im Augenblick gibt es nur eine äußerst dubiose Zusage, schriftliche Stellungnahmen liegen aber nicht vor. Ich persönlich glaube, die Angebote der Regierung sind taktischer Art und sollen die Leute nur hinhalten. F: Beschränkt sich die Auseinandersetzung denn nur auf die Gefängnisse? Nein, denn zugleich greifen faschistische Banden die Angehörigen und Menschenrechtsgruppen an, die den Hungerstreik in der Öffentlichkeit unterstützen. In Gesprächen mit bekannten Aktivisten und anderen Persönlichkeiten sagte man mir, daß die Regierung von den F-Zellen nicht abgerückt sei, sondern daß diese "im Moment" nicht durchsetzbar seien. F: Eine angebotene Amnestie wird von rechts und links angegriffen. Die Rechten wollen, daß auch die Folterpolizisten freikommen. Die Linken sagen, die Zellen würden nur freigemacht für neue politische Gefangene. Was ist von dem Projekt zu halten? Es stimmt, die Amnestie hat hier im Augenblick nur negative Presse - von links und rechts. Im Grunde ist eine richtige Amnestie seit Jahren überfällig und wird auch von der Linken gefordert. Das, was jetzt im Parlament beschlossen wurde - der Präsident und das Oberste Gericht müssen noch zustimmen - ist aber etwas ganz anderes. Die Gefangenen der PKK und der türkischen Linken fallen nicht unter die Amnestie, weil sie wegen "Separatismus" oder "Terrorismus" verurteilt wurden. Von der Haft verschont würden von den Linken nur Gefangene mit geringen Strafen, also z. B. jemand, der Guerilleros Unterschlupf gewährt hat. Die Gefangenen der Rechten dagegen, wie z. B. der Papstattentäter, sollen freikommen. Insgesamt würden zwischen 25 000 bis 40 000 der zirka 70 000 Gefangenen frei kommen. Es hat in Istanbul, Bursa und anderen Städten unerlaubte Demonstrationen der Polizei gegeben, wo diese mit erhobenen Waffen durch die Straßen gezogen sind. Als diese Demo fotografiert wurde, sind sie mit Wasserwerfern und Autos gezielt in die Menge gefahren und haben die Leute verprügelt. Aber auch im Parlament ist die Lage gespannt. Am Mittwoch gab es eine erste kurze Debatte, die in eine Schlägerei ausartete. Interview: Harald Neuber
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