Süddeutsche Zeitung 16.12.2000 Gerichtshof in Straßburg lässt Klage Öcalans zu Von Stefan Ulrich München - Der in der Türkei zum Tod verurteilte Kurdenführer Abdullah Öcalan kann wieder hoffen: Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte in Straßburg nahm am Freitag seine Beschwerde gegen Ankara an. Gleichzeitig wurde der Fall an die Große Kammer verwiesen, die für besonders bedeutende Fälle zuständig ist. Mit der Entscheidung vom Freitag ist zwar noch nicht gesagt, dass das Gericht des Europarats dem Chef der Kurdischen Arbeiterpartei (PKK) in der Sache Recht geben wird. Eine Bestätigung des Todesurteils gilt aber als kaum vorstellbar. Mit einem Urteil wird erst in einigen Monaten gerechnet. Öcalan ist 1999 von einem türkischen Staatssicherheitsgericht wegen "Separatismus und Gründung einer terroristischen Vereinigung" verurteilt worden. Derzeit ist er auf einer Insel im Marmara-Meer inhaftiert. Ankara macht ihn für den Tod von 36 000 Menschen verantwortlich, die dem Kampf um Kurdistan zum Opfer fielen. Bei einer Anhörung vor einem Monat in Straßburg sagten Vertreter der Türkei, Öcalan habe als Führer einer Terrororganisation die Einheit des Landes bedroht. Dagegen müsse der Staat sich schützen dürfen. Die Anwälte des PKK-Chefs argumentieren dagegen, die Türkei habe gegen die Europäische Menschenrechtskonvention verstoßen. Sie stützen sich dabei auf drei Punkte: die Verschleppung Öcalans durch türkische Agenten aus Kenia, die Umstände des Strafverfahrens und schließlich die Todesstrafe selbst. Ob Hinrichtungen gegen die Menschenrechtskonvention verstoßen, ist umstritten. Ankara hat sich bisher geweigert, einem Zusatzprotokoll beizutreten, das die Todesstrafe ausdrücklich verbietet. Europarat und EU kämpfen seit langem für ihre Abschaffung. Eine Hinrichtung Öcalans würde Ankaras Europa-Ambitionen daher erheblich schaden. Deshalb wären viele Politiker der Türkei nicht unglücklich, wenn der Staatsfeind Nummer 1 in Straßburg Recht bekäme.
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