Neue Luzerner Zeitung (CH), 16.12.2000 Der Hungerstreik gegen härtere Haftbedingungen ist nicht die erste solche Aktion für einige der 200 Häftlinge in türkischen Gefängnissen aber vielleicht die letzte. VON BIRGIT CERHA, NIKOSIA Dramatisch sind die Berichte der Ärzte über die Hungerstreikenden: Von Stunde zu Stunde verschlechtere sich ihr Gesundheitszustand, der Blutdruck falle, Gewicht und geistige Funktionen nähmen rapide ab. Mehr als zwanzig politische Gefangene in türkischen Haftanstalten, die nun seit bald 60 Tagen jede Nahrungs aufnahme verweigern, leiden an Gedächtnisschwund. "Einige von ihnen können jede Stunde sterben." Häftlinge wollen Garantien Besorgte Angehörige und Freunde harren ausserhalb der Gefängnismauern in Angst und Trauer aus. Als Zeichen ihrer Solidarität mit den Hungerstreikenden haben einige dieser Menschen rote Bänder um den Kopf gebunden. Künstler, Architekten, Ingenieure und zahlreiche Intellektuelle haben sich ihnen angeschlossen. Prominente Persönlichkeiten, wie der kurdische Schriftsteller Yasar Kemal oder der Komponist Oral 'alis üilar bemühen sich seit Tagen im Gespräch mit den Behörden, einen Ausweg aus der Katastrophe zu finden. Für viele der protestierenden Häftlinge dürfte das Ende der Affäre aber ohnedies zu spät kommen. Nach Aussagen der Ärzte haben sie, selbst im besten Falle, für den Rest ihres Lebens mit unheilbaren gesundheitlichen Schäden zu kämpfen. Die protestierenden Häftlinge insgesamt mehr als 200, darunter viele Kurden in zahlreichen Gefängnissen der Türkei, wollen ihre Aktion erst abbrechen, wenn sie schriftliche Garantien der Regierung zur Erfüllung ihrer Forderungen erhalten. Denn elf politische Gefangene hatten 1996 in einer ähnlichen Aktion ihr Leben gelassen. Vergeblich, denn die Behörden hielten sich nicht an die damals gegebenen Versprechen. Mörder haben bessere Aussichten Das Drama versetzt das Land in Hochspannung. In Ankara und Istanbul kam es zu Zusammenstössen zwischen demonstrierenden Familienangehörigen, Universitätsstudenten und Polizisten. Zugleich halten heftige Diskussionen über ein umfangreiches Amnestiegesetz, das eben vom Parlament verabschiedet wurde, die Öffentlichkeit im Bann. Um die explosive Situation in den total überfüllten Gefängnissen zu entspannen, will die Regierung Haftstrafen reduzieren und damit Tausende Menschen frühzeitig freilassen. Zu den Nutzniessern dieser Amnestie zählen auch rechtsradikale Mörder. Politische Delinquenten bleiben freilich ausgenommen. Viele Türken hoffen nun, dass Präsident Sezer seine Unterschrift unter das neue Gesetz verweigern werde. Niemand zweifelt, dass das Gefängnissystem, ebenso wie die Strafgesetzgebung, dringend der Reform bedarf. Insgesamt sitzen heute mehr als 72 000 Menschen in Haftanstalten teilweise unter katastrophalen Bedingungen. Die Gefängnisverwaltung ist zutiefst korrupt und stark von Sympathisanten der rechtsradikalen Nationalistischen Aktionspartei durchsetzt, die häufig brutal gegen die kurdischen und linken politischen Gefangenen vorgehen. Anderseits geniessen Mafiabosse ein Luxusdasein. Die Tageszeitung "Hürriyet" veröffentlichte jüngst Fotos von bekannten Figuren der Unterwelt, auf einem Himmelbett (so die Zeitung) liegend, von Teppichen umgeben und ein Mobiltelefon ans Ohr gepresst. Der prominente Mafiaboss Alaatin 'akici etwa, dem enge Beziehungen zu einflussreichen Politikerpersönlichkeiten nachgesagt werden, bestellt sich regelmässig in Restaurants sein Essen und weist nach informierten Kreisen Speisen zurück, wenn sie nicht seinem Geschmack entsprechen. Weniger Schutz vor Willkür Demgegenüber fristen die politischen Gefangenen ein elendes Dasein. Ihre Entschlossenheit, den Hungerstreik bis zum Ende zu führen, entspringt tiefster Verzweiflung mit einer Politik, die nach aussen hin (vor allem gegenüber der Europäischen Union) den Anschein der Reformbereitschaft zu erwecken sucht, in Wahrheit jedoch genau das Gegenteil erstrebt. Deshalb schloss sich nun auch der prominente kurdische Menschenrechtsaktivist Esber Bagmurdereli dem Hungerstreik an. Der 60-jährige blinde kurdische Jurist hatte 1998 trotz seines schlechten Gesundheitszustandes und heftiger Kritik der Europäer eine 22-jährige Haftstrafe antreten müssen, zu der er wegen "Verbreitung separatistischer Propaganda" verurteilt worden war. Die Gefangenen sind überzeugt, dass das neue Gefängnissystem grosse Gefahren für ihre Sicherheit berge. Die Häftlinge, die derzeit in Räumen mit bis zu hundert Menschen gehalten werden, sollen in Zellen für eine bis maximal drei Personen verlegt werden. Damit würden sie auch nach Ansicht unabhängiger Menschenrechtsorganisationen noch mehr den Schikanen der Wärter ausgesetzt. Selbst die Istanbuler Anwaltskammer äusserte jüngst die Befürchtung, das Vorhaben solle den "Bedürfnissen der Repressionspolitik" dienen. Sie erinnerte an einen Zwischenfall im Gefängnis von Burdur letzten Sommer, als einem Häftling durch einen Eisenanker ein Arm abgerissen, eine Gefangene vergewaltigt wurde und 61 Menschen Verletzungen erlitten. "Es ist eine Katastrophe, die zu einem Blutbad in den Gefängnissen des ganzen Landes führen könne", betont der Vorsitzender der Anwaltskammer, Yücel Sayman. Die ?wahre Absicht? des neuen Systems ist nach Ansicht des prominenten Juristen die Isolation der politischen Gefangenen. Die Regierung behaupte, sie folge mit der Reform den Forderungen der EU nach einem humaneren Gefängnissystem. "Doch welches demokratische Land lässt 10 000 Menschen wegen ihrer politischen Überzeugungen einsperren"? Weder das neue Gefängnissystem noch das Amnestiegesetz berücksichtigt dieses Grundproblem, während der Staat unvermindert die grundlegendsten demokratischen Freiheiten in gravierendster Weise verletzt. Jüngstes Beipiel: Hasan Kaya, dem Direktor des Kurdischen Instituts in Istanbul droht eine zweijährige Gefängnisstrafe und die Sperre seiner Kulturinstitution, weil er dort angeblich Kurse für kurdische Sprache veranstalte. Mit solchen "Demokratievorstellungen" will sich die Türkei in die europäische Gemeinschaft eingliedern.
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