Süddeutsche Zeitung, 19.12.2000 Revolte der türkischen Sheriffs Landesweite Proteste der Polizei richten sich auch gegen das geplante Amnestiegesetz Die Bilder wirkten auf viele Türken wie ein Schock: Polizisten demonstrierten in Istanbul, Adana, Izmir, Gaziantep, Bursa und Mersin - zu Tausenden, in ihren Uniformen, ihre Pistolen in den Händen über den Köpfen schwingend. Was als Trauermarsch für zwei am vergangenen Montag in Istanbul von Unbekannten getötete Kollegen begann, entwickelte sich zu einer landesweiten Protestwelle - so plötzlich, dass sich nun, nachdem die Sicherheitskräfte wieder für Ruhe und Ordnung in den eigenen Reihen gesorgt haben, Medien und Politiker fragen, ob es für die Revolte in Uniform nicht noch andere Motive gab als emotionale Empörung und generelle soziale Unzufriedenheit. Von der türkischen Polizei wird derzeit viel verlangt. Sie soll sich auf offiziell erklärten Wunsch ihrer Führung von einer alten gängigen Praxis verabschieden. "Die Polizei soll Beweise gegen Verdächtige sammeln, statt sie auf Verdacht zu verprügeln", sagte ein hochrangiger Beamter der englischsprachigen Turkish Daily News. Entgegen der bislang ebenso gültigen türkischen Weisheit, wonach "ein Hund keinen anderen Hund beißt", wurden bereits einzelne Polizisten für Folter und Prügeleien zur Rechenschaft gezogen. Eine derzeit heftig umstrittene Amnestie für etwa die Hälfte aller 70 000 türkischen Strafgefangenen soll für sie explizit nicht gelten. "Die Amnestie trifft die Polizei", lautete denn auch eine der Protestparolen der Demonstranten mit dem Sheriffstern. Der bekannte Kolumnist Ali Bayramoglu sieht in der Polizei-Revolte deshalb eine "symbolische Reaktion auf die öffentliche Debatte über Menschenrechte und die Demokratisierung" in der Türkei. Bayramoglu glaubt nicht, dass die Polizeimärsche so spontan erfolgten, wie sie zunächst wirkten. Für eine zumindest teilweise gesteuerte Aktion sprechen auch Äußerungen von Innenminister Sadettin Tantan, der namentlich nicht genannte Abgeordnete des türkischen Parlaments für die Aktionen verantwortlich machte. Die Polizei ist in der Türkei seit Jahren weitgehend in den Händen der rechtsgerichteten Regierungspartei MHP. Über die Hälfte der Abgeordneten der MHP hat sich an der Parlamentsabstimmung über die Amnestie nicht beteiligt, weil ihnen nahe stehende Gefangene, wie Haluk Kirci, der in der Blütezeit der rechtsextremistischen Grauen Wölfe zahlreiche Morde beging, nicht davon profitieren würden. Am Freitag hat Staatspräsident Ahmet Necdet Sezer das Amnestiegesetz mit seinem Veto gestoppt, weil es das "Vertrauen der Bürger in die Justiz untergrabe. Das krude Gesetz sah beispielsweise vor, dass Vergewaltigung mit Todesfolge zu Strafnachlass führt, Vergewaltigung ohne Tod des Opfers aber nicht. Für das Veto erhielt Sezer Beifall von vielen Seiten. Ilter Türkmen, Kolumnist der Zeitung Hürriyet etwa lobte Sezers Klugheit. Ministerpräsident Bülent Ecevit wiederum will das Veto nicht akzeptieren. Er will das Gesetz dem Parlament abermals vorlegen. So zeichnet sich ein Machtkampf mit ungewissen Ausgang ab. Und ob sich die Polizei hier wieder mit Drohgebärden einmischen wird, ist ebenfalls offen. Christiane Schlötzer |