taz 19.12.2000 "Es gibt die Integrationsgrenze" Interview BETTINA GAUS taz: Glauben Sie, dass der Bundestag noch in dieser Legislaturperiode ein Einwanderungsgesetz beschließen wird? Rita Süssmuth: Ob das Parlament bereits ein Gesetz beschließen wird, weiß ich nicht. Aber der Bundestag wird sich ganz sicher noch vor den nächsten Wahlen mit dem Thema befassen. Das Thema Zuwanderung ist ja emotional hoch befrachtet, wie sich gerade in den letzten Monaten wieder gezeigt hat. Kann die Kommission eigentlich inmitten all der aufgeregten Diskussionen überhaupt unabhängig und sachbezogen arbeiten? Ja. Ohnehin haben einige Aufgeregtheiten nur den Blick darauf verstellt, dass sich alle Parteien bei dem Thema insgesamt deutlich einander angenähert haben. Der entscheidende Quantensprung ist durch die Veränderung der politischen Positionen zu Deutschland als Einwanderungsland erfolgt. Wir gehen jetzt nicht mehr von der Rotation aus, dass also Ausländer kommen und dann wieder gehen, sondern wir gehen davon aus, dass ein bestimmter Anteil auf Dauer bleibt. Das ist der entscheidende Punkt. Es bahnt sich auch ein Konsens hinsichtlich der Einsicht an, dass wir arbeitsmarktbezogene Zuwanderung brauchen. Mit das Wichtigste ist für mich außerdem, dass wir endlich die Notwendigkeit verstärkter Integration erkannt haben, wenn wir die Entstehung von Parallelgesellschaften verhindern wollen. Haben Sie in diesem Zusammenhang die Diskussion über eine deutsche Leitkultur für hilfreich gehalten? Hilfreich ist, dass wir über all diese Themen jetzt sprechen und dass es zu einigen konstruktiven Debatten gekommen ist. Allerdings auch zu Missverständnissen. Ich bin dafür, dass die Diskussion anhält. Aber sie darf nicht bei Ausländern die Befürchtung auslösen, sie müssten ihre Kultur vergessen. Integration meint nicht die Aufgabe der eigenen kulturellen Identität. Die Kommission beschäftigt sich nicht nur mit Zuwanderung, sondern sie soll auch prüfen, ob und gegebenenfalls welche Änderungen im Asylverfahren erforderlich sind. Zeichnet sich schon ab, welche Empfehlungen ausgesprochen werden? Tendenzen zeichnen sich ab. Mehr darüber zu sagen widerspräche den Regeln unserer Arbeit. Aber mir ist der Hinweis wichtig, dass sich die Kommission nicht unter eine Käseglocke begeben hat, sondern die Argumente der öffentlichen Diskussion aufnimmt und auch den Blick darauf richtet, wie es in anderen Ländern Europas aussieht. In anderen Ländern gibt es kein individuelles Recht auf Asyl, sondern lediglich eine so genannte institutionelle Garantie. Das Grundrecht auf Asyl ist allein noch kein Beweis dafür, dass man auch in der Rechtspraxis den höchsten Standard hat. Viele Deutsche glauben, wir hätten den hinsichtlich der Aufnahme politisch Verfolgter. Ich rate da zur Vorsicht. Die konsequente Auslegung der Genfer Flüchtlingskonvention führt auch in anderen Ländern, die wir untersuchen, zu hohen Standards. Beispielsweise gibt es in Frankreich, das eine institutionelle Garantie hat, einen Rechtsanspruch auf Asyl. Es gibt Klagemöglichkeiten, und die Beschwerdeinstanzen sind mit Richtern besetzt. Wir werden in unserem Kommissionsbericht auch beschreiben, ob daraus positive Veränderungen hinsichtlich der Verfahrensdauer abzuleiten sind. Lügt sich der Teil der deutschen Öffentlichkeit, der unsere Standards für die höchsten in Europa hält, in die eigene Tasche? Wir überprüfen die Richtigkeit der These, Deutschland habe die höchsten Standards. Es gibt in der EU eben nicht nur Diskussionen, Standards herunterzuschrauben, sondern auch zu erhöhen. Beispielsweise gibt es ja eine Kontroverse zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Europäischen Kommission in Bezug auf Familienzusammenführung und auf die Drittstaatenregelung. Der Kommission sind bestimmte einheitliche Mindeststandards wichtig. Ich persönlich möchte hier aber auch sagen: Die Drittstaatenregelung war ein wesentlicher Teil des Asylkompromisses, und man muss sehr vorsichtig sein, wenn man etwas, was mühsam gefunden worden ist, wieder aufgibt. Ist es also Ihrer Ansicht nach vorstellbar, das individuelle Asylrecht abzuschaffen und dennoch insgesamt höhere Standards zu schaffen? Das ist theoretisch denkbar, aber politisch geht es nicht um die Frage der Aufgabe des Grundrechts auf Asyl, sondern um Beschleunigung und Verkürzung der Verfahren, ohne dass die Qualität des humanitären Schutzes darunter leiden darf. Teile Ihrer Partei fordern schon lange eine Abschaffung des Asylrechts. Der Bundeskanzler hat diese Forderung zurückgewiesen, sich aber zugleich für eine Harmonisierung des Rechts auf europäischer Ebene ausgesprochen. Das liefe im Grundsatz auf dasselbe hinaus. Können Sie mir diesen Widerspruch erklären? Die Harmonisierung auf europäischer Ebene ist notwendig. Aber die europäischen Mindestnormen hindern kein Land daran, höhere Standards zu setzen. Die Bundesregierung hat ja schon häufiger Kommissionen eingesetzt und sich hinterher um deren Rat wenig gekümmert. Haben Sie die Hoffnung, dass Ihrer Kommission nicht dasselbe Schicksal widerfährt? Es gibt dafür keine Garantie. Aber die Berechtigung der Arbeit einer Kommission leitet sich nicht daraus ab, ob ihre Empfehlungen eins zu eins umgesetzt werden. Es muss auch die Möglichkeit zum Dissens geben. Es ist das gute Recht einer Regierung, Vorschläge zurückzuweisen. Sie muss das dann allerdings begründen. Unsere Aufgabe ist es, Antworten auf Fragen zu geben, soweit wir das können, und auch zu sagen, wo wir keine Antworten geben können. Nehmen Sie so ein Zauberwort wie "Steuerung". Wir müssen eben auch sagen, wo die Grenzen der Steuerung liegen. Wird die Kommission so genannte Belastungsgrenzen definieren? Es gibt eine Belastungsgrenze für den Arbeitsmarkt, es gibt die Integrationsgrenze. Solche Themen werden wir erörtern. Aber ich denke nicht, dass wir in die Tiefe gehen können hinsichtlich aller Belastungsfragen. Die Kommission wird sich aufgrund des zeitlichen Rahmens auf bestimmte Themen konzentrieren müssen. Ich möchte allzu hoch gesteckte Erwartungen dämpfen. Mir geht es vor allem darum, dass das, was wir verändern wollen, ein praktikabler Rahmen ist, dass wir nicht neue Bürokratie schaffen, sondern praxis- und basisbezogene Regelungen. Wird die Kommission also keine konkreten Zahlen und Obergrenzen für Zuwanderung benennen? Das weiß ich noch nicht. Aber lassen Sie mich noch etwas zu dem Wort "Belastungsgrenze" sagen: Für uns ist auch das Stichwort der "Bereicherung" ein ganz wichtiger Ansatzpunkt. Eine dynamische Gesellschaft ist auf den Austausch mit anderen Kulturen angewiesen. Sie befassen sich in der Kommision auch mit dem Thema der Integration. Können Sie in diesem Zusammenhang einige Eckpunkte nennen? Eckpunkte werden von der Kommission festgelegt, aber es zeichnet sich ab, dass der Spracherwerb, den ich persönlich als Verpflichtung geregelt sehen möchte, einen hohen Stellenwert hat. Ich gehe so weit, weil das dann auch uns im Gegenzug verpflichtet, Entsprechendes anzubieten. An zweiter Stelle steht die Ausbildung und an dritter Stelle die Frage nach der Gestaltung der Wohnquartiere. Wenn wir vermeiden wollen, dass rein ethnisch ausgerichtete Diskotheken oder Sportvereine entstehen, dann ist das ein sehr wichtiger Punkt. Wir haben jetzt davon gesprochen, was wir anzubieten haben. Es gibt aber auch die Verpflichtung der Zugewanderten, sich in die Kultur zu integrieren, in der sie dann leben. Die ist schwer einklagbar. Es lassen sich aber Voraussetzungen schaffen, die dafür günstig sind. Außerdem gibt es bestimmte Bereiche, wo ich Zuwanderer durchaus verpflichten kann. Ein Beispiel ist eben der Spracherwerb. Ein weiteres ist die Schulpflicht, wo es bisher keine bundeseinheitliche Regelung gibt. Es muss auch geklärt werden, für wen welche Integrationsangebote gelten. Gehören beispielsweise die Bürgerkriegsflüchtlinge dazu oder nicht? Diese Fragen sind wichtige Dreh-und Angelpunkte für die Kommission. Glauben Sie, dass das Thema Asyl und Zuwanderung im Bundestagswahlkampf eine Rolle spielen wird? Wenn es im Sinne der Diskussion, die jetzt begonnen hat, eine Rolle spielt, dann ist es weiterführend und hilfreich. Aber es verbietet sich, den Wahlkampf auf dem Rücken der Ausländer auszutragen. Sie sind aus den Reihen der Union heftig dafür kritisiert worden, dass Sie den Vorsitz dieser Kommission übernommen haben. Glauben Sie, dass Ihre Entscheidung dazu geführt hat, dass Sie in der eigenen Partei isoliert sind? Meine Entscheidung wird von bestimmten Teilen der Partei nicht akzeptiert. Ich stelle aber auch fest: Je länger die Arbeit andauert, desto stärker verändert sich auch die Einstellung in der CDU dazu. Ich würde zum gegenwärtigen Zeitpunkt nicht mehr von Isolation reden. Es hat sie aber gegeben? Es hat sie gegeben. Wie weit sie ganz rückführbar ist, weiß ich nicht. Aber je tiefer ich in diese Arbeit eindringe, desto mehr wächst meine Überzeugung, dass meine Entscheidung richtig war. |