junge Welt, 20.12.2000

Interview

Hungerstreik in der Türkei gewaltsam beendet?

jW sprach mit Sakine Sevim, Vorstandsmitglied im türkischen Menschenrechtsverein IHD

F: Am gestrigen Dienstag, dem 60. Tag des Hungerstreiks politischer Gefangener in der Türkei, drangen Sicherheitskräfte gewaltsam in die Gefängniszellen ein. Was genau ist passiert?

Detaillierte Informationen haben wir zu den Vorgängen in den einzelnen Gefängnissen noch nicht. Was wir aber sagen können: Gegen 5 Uhr früh drangen landesweit Sicherheitskräfte in die Gefängnisse ein. Die aus Militärs und Sondereinheiten bestehenden Kommandos verschleppten die teils stark geschwächten Gefangenen in andere Gefängnisse oder in Krankenhäuser. Dabei gab es auf jeden Fall mehrere Tote.

F: Nach ersten offiziellen Darstellungen gab es beim gewaltsamen Ende des Hungerstreiks keine Toten.

Diese Behauptung ist auf jeden Fall falsch. Nach meinen Informationen, und ich bin mit meiner Organisation in ständigem Kontakt, gab es allein in dem Gefängnis Bayrampasa in Istanbul fünf Tote und fünf weitere in verschiedenen anderen Gefängnissen des Landes. Zwei Namen von Todesopfern kann ich auch schon bekanntgeben. Es sind Fidan Kavsal im Gefängnis Canakkale sowie Murat Özdemir im Gefängnis von Usak. Außerdem sind neben den Toten eine noch unbekannte Zahl von teils Schwerverletzten zu beklagen.

Klar ist auch: Die Behörden geben absichtlich nicht die Namen der Toten bekannt, weil das draußen zu Demonstrationen und Protesten führen würde.

F: In den letzten Tagen hat es viele Solidaritätsaktionen, insbesondere von Angehörigen der Gefangenen, gegeben. Wie ist die Situation im Moment?

Versuche, gegen das staatliche Vorgehen zu demonstrieren, wurden im Keim erstickt. Die Polizei unterbindet gegenwärtig alle Demonstrationen oder Protestkundgebungen - es ist eine sehr zugespitzte Lage. In Ankara hat die Polizei sofort 60 Menschen festgenommen, die gegen das Vorgehen in den Gefängnissen protestieren wollten, und auch in anderen Städten wurden derartige Versuche unterbunden.

F: Gibt es Möglichkeiten, daß ausländische Organisationen vor Ort tätig werden, gibt es hier schon irgendwelche Reaktionen?

Ich habe versucht, mit Claudia Roth, der Vorsitzenden des Bundestagsauschusses für Menschenrechte, Kontakt aufzunehmen. Das hat bisher leider noch nicht geklappt. Ich habe auch Cem Özdemir von der bündnisgrünen Bundestagsfraktion angerufen, aber der hat sich leider ebenfalls noch nicht zurückgemeldet.

Es ist für uns allerdings auch kein Wunder, daß es bisher hier keine Stellungnahmen gibt - leider wurde in Europa die Einführung der neuen Gefängnisse ja auch unter dem Stichwort »Einführung europäischen tandards« gehandelt.

F: Hat der IHD Möglichkeiten, sich vor Ort zu informieren?

Es ist sehr schwierig. In Istanbul ist Eren Keskun vom IHD festgenommen worden. Sie hatte vor, Kontakt zu den Hungerstreikenden aufzunehmen. Es haben sich auch einige andere Anwälte um Kontakte bemüht, aber die wurden auch daran gehindert, hier aktiv zu werden.

F: Was bedeutet dieses gewaltsame Ende des Hungerstreiks?

Wir wissen noch nicht genau, wie es nun weitergeht. Aber was jetzt stattfindet, ist die Zerschlagung von Gruppen - das Vorhaben, die Gefangenen in Einzelzellen oder Zellen mit nur zwei, drei Insassen wird nun umzusetzen versucht. Also genau das, wogegen sich die Hungerstreikenden so massiv gewehrt haben.

Interview: Thomas Klein