junge Welt, 20.12.2000 Folterknäste im Sturm eingeführt Hungerstreik in türkischen Gefängnissen von Polizei niedergeschlagen. Von Peter Nowak Dienstag früh, Punkt 3.30 Uhr, begannen in der Türkei Polizei und Militär ihren Sturmangriff auf 20 Gefängnisse, in denen über 1 000 politische Häftlinge in einen unbefristeten Hungerstreik getreten waren. Über 200 Gefangene hatten sich in den letzten Wochen sogar einem sogenannten Todesfasten angeschlossen, um sich gegen die Einführung von Isolationszellen zu wehren. Mehrere Gefangene sowie zwei Polizisten kamen beim landesweiten Sturm auf die Anstalten ums Leben. Die Angehörigenorganisation Tayad nannte die Namen Sevgi Erdogan, Fidan Kalsen, Murat Özdemir, Ahmet Ibili, Hasan Güngormez. Der türkische Justizminister Hikmet Sami Türk teilte lediglich mit, daß sich zwei Häftlinge beim Eindringen der Polizei selbst verbrannt hätten. Mit der Aktion wolle der Staat »das Leben der Gefangenen retten«. Angehörigen- und Menschenrechtsgruppen befürchten, daß die Zahl getöteter Häftlinge noch erheblich steigen könnte. Bis Redaktionsschluß dauerten die Auseinandersetzungen in mehreren Gefängnissen noch an. Die Gefangenen hatten sich verbarrikadiert und wehrten sich mit allen zur Verfügung stehenden Mitteln gegen die Polizeiangriffe. Selbst Ministerpräsident Bülent Ecevit mußte in einer am Vormittag im türkischen Fernsehen ausgestrahlten Pressekonferenz zugeben, daß Militär und Polizei die Lage noch nicht unter Kontrolle hätten und begründete das mit einer großen Anzahl von Waffen, die die Gefangenen angeblich in den Zellen versteckt hätten. In den vergangenen Tagen mehrten sich die Zeichen, daß die türkische Regierung auf den seit zwei Monaten andauernden Widerstand der Gefangenen gewaltsam reagieren wird. So machten seit letzter Woche die faschistischen »Grauen Wölfe« gegen die Gefangenen und ihre Unterstützer draußen mobil. In Istanbul und anderen türkischen Städten demonstrierten mehr als 3 000 der rechten Regierungspartei MHP nahestehende Polizisten mit gezogener Waffe durch die Straßen und riefen Parolen, die an den Terror der »Grauen Wölfe« in den 70er Jahren erinnerten. Mit dem Argument, die Berichterstattung »spalte die Nation« und beschwöre die Gefahr von Unruhen herauf, hatte die Regierung in Ankara kürzlich der Presse per Erlaß verboten, weiter über den Hungerstreik zu berichten. Journalisten wurden von den Eingängen der Gefängnisse verjagt: ein untrügliches Zeichen für das geplante gewaltsame Vorgehen. »Die angreifenden Polizisten, die jetzt auf die politischen Häftlinge der türkischen und kurdischen Linken losgelassen werden, sind überwiegend dieselben Personen, die sich am vergangenen Wochenende in Massen an faschistischen Demonstrationen beteiligt hatten«, erklärte YEK-KOM, die Föderation kurdischer Vereine in Deutschland, am Dienstag. Die meisten Hungerstreikenden seien nach dem Sturm der Gefängnisse in Krankenhäuser eingeliefert worden, berichtete der Präsident der Istanbuler Anwaltskammer, Yücel Sayman. Viele weigerten sich nach Angaben von Ärzten jedoch weiterhin, Nahrung oder medizinische Hilfe anzunehmen. Die Gefangenen protestieren gegen den Plan der Regierung, neue Knäste einzurichten, in denen maximal drei Insassen pro Zelle untergebracht sind. Bislang leben die Gefangenen in Großzellen mit bis zu 60 Häftlingen, die einen gewissen Schutz gegen Übergriffe der Aufseher und Folter bieten. Nach Angaben der Nachrichtenagentur AFP begannen die türkischen Behörden noch am Dienstag damit, die ersten Gefangenen in die neuen »F-Typ-Gefängnisse« zu verlegen. |