Süddeutsche Zeitung, 20.12.2000 Sturm auf die Hungernden 1100 türkische Häftlinge protestieren mit einem Streik gegen eine Gefängnisreform - jetzt geht die Polizei mit Gewalt vor Die Sicherheitskräfte kamen kurz vor Sonnenaufgang. Sie stürmten in die Zellen und beendeten gewaltsam eine seit 60 Tagen andauernde Provokation von Polizei und Justiz in der Türkei. In 48 Gefängnissen waren zuletzt mehr als 1100 Häftlinge im Hungerstreik, 284 beteiligten sich an einem "Todesfasten". Sie nahmen nur gezuckertes Wasser zu sich. Der Zustand einiger Häftlinge war so schlecht, dass jeden Moment mit ihrem Tod gerechnet werden musste. Justizminister Hikmet Sami Türk sprach am Morgen von einem Sturm auf 20 Haftanstalten, der weitergehen werde, "bis wir überall Erfolg haben". In einigen Anstalten gab es heftige Gegenwehr. Am Abend berichtete Türk von 15 toten Häftlingen und zwei toten Sicherheitskräften. Mehrere Häftlinge hätten sich verbrannt, einer sei erschossen worden. Auch gab es nach offiziellen Angaben 57 Verletzte. Das Fernsehen zeigte Bilder von den Einsätzen in Bursa und Adana. In Istanbul riegelte die Polizei das Gebiet um das Gefängnis Bayrampasa ab und versperrte Journalisten den Zugang. Bayrampasa war eines der Zentren der Streikbewegung, die von linksextremen Splittergruppen getragen wurde. PKK-Hälftlinge hatten nach Medienberichten ihre Beteiligung bereits in der vergangenen Woche beendet. Am Montagabend zeigten TV-Sender Krankenhäuser, die sich auf die Behandlung von Hungernden vorbereiteten. Von da an konnte mit dem Sturm gerechnet werden, zumal halboffizielle Vermittlungsversuche durch Abgeordnete des Parlaments ebenso gescheitert waren, wie Bemühungen prominenter Künstler wie Yasar Kemal, Orhan Pamuk und Zülfü Livaneli. Anlass für die landesweite Aktion war die Absicht der Regierung, die überfüllten Gefängnisse mit ihren Gemeinschaftszellen, in denen häufig über 60 Inhaftierte zusammengepfercht sind, durch neue Anstalten zu ersetzen, die in der Türkei als "Typ-F" bekannt wurden. Fünf der modernen Hochsicherheitstrakte sind fertig gestellt, weitere sechs sollen bis Mitte 2001 folgen. In ihnen soll es nur noch Zellen für einen oder höchstens drei Häftlinge geben. Die Regierung begründet dies mit unzumutbaren Zuständen in den jetzigen Anstalten, also quasi einer Anpassung an europäische Standards. Befürworter preisen den "Komfort" der F-Zellen, Kritiker sprechen von Isolationshaft und Zellen wie Särgen. Ein Reporter der Frankfurter Allgemeinen Zeitung durfte jüngst ein F-Gefängnis in Sincan besichtigen. Ihm wurden Zellen mit Duschen und TV-Satellitenanschlüssen gezeigt. Jeweils vier Einzelzellen führen auf einen 50 Quadratmeter großen Hof. Nach Artikel 16 des gültigen Antiterrorgesetzes sollen politische Häftlinge allerdings keine Gelegenheit haben, sich zu treffen und auszutauschen. Deshalb kritisieren auch angesehene Rechtsanwälte und Ärzte die F-Zellen. Justizminister Türk versprach zwar eine Novellierung der strikten Isolationsvorschrift und zuletzt auch einen Aufschub für den Bau der F-Zellen, aber solche Versprechen seien "auf Wasser gebaut", fürchteten Vertreter der Menschenrechtsstiftung. Türk gab am Dienstag zu, dass Ankara seit 1991 praktisch keine Kontrolle mehr über viele Anstalten habe. Es gab immer wieder Berichte über Mafiabosse, die aus der Haft ihre Geschäfte dirigieren, wie über politische Kader, die dort ihren Nachwuchs rekrutieren, aber auch über äußerste Brutalität des Gefängnispersonals, über Folter, Prügel und Vergewaltigungen. Sogar Ministerpräsident Bülent Ecevit sah sich am Dienstag zu einer Stellungnahme veranlasst. "Wir möchten die Terroristen vor ihrem Terror retten", sagte er. Damit machte Ecevit das Ziel der Aktion klar: die Regierung wollte keine Märtyrer. Das Fernsehen sendete am Nachmittag ein abgehörtes Handy-Telefonat eines angeblichen Streikführers aus Bayrampasa, der Häftlinge in der Osttürkei zur Selbstverbrennung aufforderte. Christiane Schlötzer |